Mo., 08.11.21 | 23:50 Uhr
Das Erste
Unsere Dörfer – Niedergang und Aufbruch
Der Niedergang war geplant. In den 1960er-Jahren galt das Dorf als rückständig und Verkehrshindernis. So lautete der Befund von Planern und Bürokraten aus den Städten. Traditionsreiche Fachwerkbauten in der Dorfmitte wurden abgerissen und machten Platz für sterile Neubauten und breitere Straßen. Der Dorfplatz wurde zum Parkplatz. Statt Menschen begegneten sich Autos. Dann verschwanden Eichen, Dorf-Linden, Bäcker, Schuster und Tante-Emma-Laden. Vielerorts kam der Pfarrer auch nur noch alle drei Wochen zum Gottesdienst ins Dorf.
Doch jetzt blühen manche Dörfer wieder auf. Wer verantwortete den Niedergang und wer sorgt jetzt für neue Hoffnung?
Aus lebendigen Gemeinden wurden in den 1960er-Jahren verschlafene Dörfer. Verschont von den Bomben des Zweiten Weltkrieges wurden sie neu vermessen und flurbereinigt. Die Landwirtschaft sollte industrialisiert werden. Felder und Ackerflächen, zuvor im Streubesitz, wurden zu großen Flächen zusammengelegt. Es profitierten meist die Bauern, die viel Land besaßen. Das gab Streit im Dorf. Die großen Höfe wuchsen und die kleinen gingen unter. Bis 1978 verschwanden eine Million Kleinbetriebe. Für die verbliebenen Bauern gab es wenig Risiko und wenig Marktwirtschaft. Denn der Sektor wurde hoch subventioniert. Das führte zu einer enormen Überproduktion. Es entstanden die sogenannten Brüsseler "Butterberge" und "Milchseen".
Gefährliche Hochwasser als Folge der Flurbereinigung
Zudem wurde planiert, über 90.000 Kilometer schnurgerade Straßen wurden gebaut und auf 40.000 Kilometern Bäche kanalisiert. Auch aus diesem Grund gelten Bodenerosion und gefährliche Hochwasser heute als Folge der Flurbereinigung. Für große Ackerflächen wurden Hecken abgeholzt, dadurch Insekten und Vögel vertrieben. Allein in Schleswig-Holstein verschwanden umgerechnet 28.000 Kilometer dieser sogenannten Knicks, grüne Wallhecken, die historisch gewachsen die Felder trennten. In der DDR uniformierten Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, LPGs, das ostdeutsche Äquivalent zum Großbauern.
Dann wurden die Gemeinden reformiert und zusammengelegt. Viele kleine Dörfer hatten keinen Bürgermeister mehr. 16.000 Gemeinden verloren bis Ende der 1970er-Jahre ihre Eigenständigkeit. Rathäuser wurden geschlossen und kommunale Parlamente überflüssig, 300.000 Ortsvertreter nicht mehr gebraucht. Schulen geschlossen. Die Gemeindereform entsprang der Idee des Zentralismus. Eine Übernahme aus der NS-Zeit.
Die "Modernisierung" der Dorfstraßen folgte Richtlinien für den Ausbau innerstädtischer Hauptstraßen. Viele Dörfer wurden in zwei Teile zerschnitten. Immer mehr junge Leute wurden Opfer von Verkehrsunfällen.
Die Denkmalschützenden begeisterten sich damals eher für Burgen und Schlösser, interessierten sie sich für historische Bauten im Dorf, machten maßlose Auflagen deren Erhalt vielerorts unmöglich. Dorf-Linde und Kastanien fielen der Kettensäge zum Opfer. Es entstanden gesichtslose, mit Eternit verkleidete Bauten statt Fachwerk. Fertigbungalows wurden sogar im Quelle-Katalog angeboten.
In einigen Dörfern geht es langsam wieder aufwärts
Kurz darauf verschwanden in den kleinen Orten dann auch Sparkasse, Post, und das Wirtshaus. Jetzt werden Dorfkneipe und Laden in Freilichtmuseen wieder aufgebaut: Erinnerungskultur.
Was nach der Flurbereinigung und der Gemeindereform plattgemacht wurde, hat wieder eine Zukunft. In einigen Dörfern geht es langsam wieder aufwärts. Bewohnerinnen und Bewohner setzen auf Gemeinsinn und schaffen in Eigenregie Dorfläden und locken junge Familien an. Wo es schnelles Internet gibt, lockt die Wohnungsknappheit sogar wieder die Jugend in manches totgesagte Dorf.
Diese Sendung ist nach der Ausstrahlung zwölf Monate lang in der ARD Mediathek verfügbar.
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