Faktencheck: Einordnung zum Interview von Anne Will mit dem Botschafter Russlands

Das Interview mit dem russischen Botschafter Sergej J. Netschajew hat ARD Autorin Anne Will für die Dokumentation „Angst vor Krieg – Die Deutschen in der Zeitenwende“ geführt. Den Film findet ihr in der ARD Mediathek.

Anne Will im Interview mit dem russischen Botschafter Sergej J. Netschajew:

Interview mit dem Botschafter Russlands

Warum haben wir den russischen Botschafter interviewt?

In unserer ARD Reportage geht es um die Angst vor einem Krieg. Laut einer repräsentativen Umfrage von Infratest Dimap haben 56 Prozent der Deutschen Sorge, dass es wieder zu einem großen Krieg in Europa kommen könnte. Grund dafür ist das Verhalten Russlands. Uns war es deshalb wichtig, einen Vertreter der russischen Regierung damit zu konfrontieren und nachzufragen, ob wir uns zu Recht Sorgen machen. Das Gespräch fand am Freitag, den 21.3.2025 in der russischen Botschaft in Berlin statt.

Ein Gespräch mit einem ranghohen Beamten Russlands in diesen Zeiten ist nicht unproblematisch. Russland versucht, die öffentliche Meinung in Deutschland zu beeinflussen. Insbesondere geht es darum, den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Dabei wird immer wieder behauptet, der Westen sei russlandfeindlich und in der Ukraine seien Nazis an der Macht. Wir posten hier deshalb einige Erläuterungen und Richtigstellungen zu den Aussagen Sergej J. Netschajews.

Aussagen des russischen Botschafters im Faktencheck

Aussage Sergej J. Netschajew: „Die schwierigste Sache war natürlich der Zweite Weltkrieg für uns, der Große Vaterländische Krieg, wo wir 27 Millionen Menschen verloren haben. Für diesen Sieg über den Nazismus hat unser Volk gewaltige Opfer, gewaltige Opfer [gebracht].”

Richtig ist: Es stimmt, dass die Sowjetunion die höchsten Verluste verzeichnen musste. Aber der Botschafter spricht in diesem Zusammenhang von “unser Volk” und das ist nicht richtig, denn damit setzt er Russland mit der Sowjetunion gleich. Die genannte Zahl der Toten bezieht sich nämlich korrekterweise nicht nur auf Russen, sondern auch auf Georgier, Esten, etc. und natürlich auch Ukrainerinnen und Ukrainer, da deren Länder auch Teil der Sowjetunion waren.

Infos dazu:

Aussage Sergej J. Netschajew: „Wir haben mit diesem Krieg überhaupt nicht angefangen. Es ging los ab 2014 mit einem Staatsstreich in der Ukraine, mit einem absolut verfassungswidrigen Staatsstreich.”

Richtig ist: Es gab keinen „Staatsstreich“ in der Ukraine. Ab Ende 2013 protestierten Ukrainerinnen und Ukrainer für einen pro-europäischen Kurs und gegen den russlandfreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Dieser floh infolge der Proteste außer Landes. Das Parlament enthob ihn seines Amtes. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer wollten eine Annäherung an die EU. Sie wählten den Pro-Europäer Petro Poroschenko zum Präsidenten. Russland drohte daraufhin mit „Konsequenzen“ und Ende Februar 2014 begann die Annektion der Krim durch russische Soldaten. Außerdem fanden im März 2014 in den ukrainischen Oblast Donezk und Luhansk, die gemeinsam als „Donbas“ bezeichnet werden, Interventionen von Gruppen statt, die von Russland gesteuert wurden. Bewaffnete riefen die Volksrepubliken Donezk (DNR) und Lugansk (LNR) aus.

Weiterführende Informationen gibt es u.a. hier:

Aussage Sergej J. Netschajew: „Haben wir Deutschland gedroht mit einer mit einem Angriff? Haben wir irgendwelche zusätzliche Waffenarten irgendwo stationiert, die diesen Angriff vorzeichnen?”

Richtig ist: Russland hat dem Westen mehrfach gedroht. In der Regel übernimmt das Dmitri Medwedew, Vizechef des russischen Sicherheitsrats. Er warnt vor einem Krieg mit Nuklearwaffen: "Kiew, Berlin, London, Washington, diese schönen historischen Orte gehören seit Langem zu den Flugzielen unserer Nuklearstreitkräfte."

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow äußerte sich ähnlich: "Unser Land steht im Fadenkreuz amerikanischer Raketen in Europa." Er fügte hinzu: "Wir haben die Kapazitäten, diese Raketen in Schach zu halten, aber die potenziellen Opfer sind die Hauptstädte dieser europäischen Länder."

Weiterführende Informationen gibt es u.a. hier:

Aussage Sergej J. Netschajew: „Wir haben niemanden [Krim und Donbas, Anm. der Red.] annektiert. Das war die absolute freiwillige Willensaktbekundung der Einwohner, die unter dem Druck des damaligen pseudo neonazistischen Regimes standen.”

Richtig ist: Es gab keine „freiwillige Willensbekundung“ - weder in der Region Donbas noch auf der Krim. Am 27. Februar 2014 besetzten russische Soldaten strategisch wichtige Punkte auf der Krim. Russlandtreue Separatisten führten ein Scheinreferendum durch. Die Annexion der Krim wird weltweit verurteilt. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen bekräftigte am 27. März 2014 die territoriale Integrität der Ukraine und erklärt das Referendum auf der Krim für ungültig.  Lediglich ein paar enge Verbündete Russlands – wie Syrien, Nordkorea und Belarus – erkennen die Krim als russisches Hoheitsgebiet an.

Weiterführende Informationen gibt es u.a. hier:

Aussage Sergej J. Netschajew: „Wir haben aus Westeuropa bis jetzt keine Friedenspläne gehört, auch in Bezug auf die Regelung des Konflikts in der Ukraine.”

Richtig ist: Es gab sehr wohl zahlreiche Versuche, zwischen den Parteien zu vermitteln. Eine Übersicht findet sich zum Beispiel hier:

oder hier:

Wenn russische Offizielle wie Netschajew von „Beseitigung oder Regelung der Ursachen des gesamten Konfliktes“ sprechen, meinen sie in der Regel die NATO-Osterweiterung, die ihrer Meinung nach zurückgenommen werden müssen.

Aussage Sergej J. Netschajew: „Das ist ein Konflikt, wo wir, wo uns, der ganze kollektive Westen gegenübersteht.”

Richtig ist: Der derzeitige groß angelegte Krieg begann mit Russlands Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022. Die Behauptung, der Westen sei der Aggressor, die Ukraine lediglich Stellvertreterin des Westens, ist eine klassische Desinformationstaktik, um Russland als Opfer seines eigenen Kriegs darzustellen.

Richtig ist: Die EU, die USA und viele NATO-Mitgliedstaaten unterstützen die Ukraine mit militärischer Ausrüstung, um ihr zu helfen, Russlands Angriff abzuwehren. Diese Länder sind jedoch nicht direkt an den Kämpfen beteiligt. Der Westen beabsichtigt nicht, Russland zu zerstören. Er will, dass Russland aufhört, die Ukraine zu zerstören.

Weiterführende Informationen gibt es u.a. hier:

Aussage Sergej J. Netschajew: „Was müssen die Russen glauben? Die einfachen Menschen von der Straße? Warum sollen diese Raketen kommen? Warum werden hunderte Milliarden für die Militarisierung der Wirtschaft gesammelt? Die Russen fragen, was haben wir zum Beispiel Deutschland getan?“

Fakt ist: Zunächst hat Russland massiv aufgerüstet. Russland steckt in diesem Jahr 40 Prozent seines Staatshaushaltes in Militär und Sicherheit. Das ist gegenüber 2024 nochmal dreißig Prozent mehr.

Der Kreml hat die Truppenstärke der russischen Armee seit dem Einfall in die benachbarte Ukraine bereits dreimal erhöht. Zuletzt ordnete Putin im vergangenen Herbst die Erhöhung der Sollstärke auf 2,4 Millionen Militärangehörige an - davon 1,5 Millionen Soldaten.

Weiterführende Informationen gibt es u.a. hier:

Aussage Sergej J. Netschajew: „Wir haben diesen Krieg nicht angefangen. Es ging richtig los mit einem absolut klaren Terror gegen die Ostukraine, ukrainischen Provinzen, damals nach 2014, wo die Menschen im Donbass nicht einverstanden waren mit der neonazistischen Ideologie in der Ukraine und dann gesagt haben, wir brauchen etwas Anderes.”

Richtig ist: Russland hat diesen Krieg begonnen, in dem es die Ukraine überfallen hat. Es gibt nach Aussage internationaler Expertinnen und Experten keine Hinweise dafür, dass es massive Verfolgungen oder gar “Terror” gegen russischsprachige Menschen in der Ostukraine gegeben hat, auch wenn Vertreter des Kremls das immer wieder behaupten.

Ebenso wie der Botschafter von “neonazistischer Ideologie” spricht, wird immer wieder von russischen Offiziellen behauptet, die Ukraine sei ein „Nazistaat“ und bedrohe damit Russland.  

Tatsächlich ist der ukrainische Präsident jüdischer Herkunft. Mehrere seiner Verwandten fielen dem Holocaust zum Opfer. Öffentlich sprach sich der ukrainische Präsident mehrfach gegen den Nationalsozialismus aus. Rechtsextreme gibt es auch in der Ukraine, sie haben aber keine Mehrheit unter den Ukrainerinnen und Ukrainern.

Weiterführende Informationen gibt es u.a. hier:

Sergej J. Netschajew behauptet im Laufe des Gesprächs immer wieder, Russland sei friedlich, es gäbe weder Bedrohungen noch Angriffe gegen die europäische Infrastruktur.

Richtig ist: Europäische Infrastruktur ist sehr wohl bedroht und die Liste der mutmaßlich russischen Sabotageakte ist laut deutschem Verfassungsschutz inzwischen lang. Sie umfasst etwa Vorfälle auf deutschen Kriegsschiffen, Anschläge mit Brandsätzen auf Luftfrachtflugzeuge oder Brandanschläge auf Lagerhallen in Großbritannien mit technischem Gerät für die Ukraine. In der Ostsee werden russische Schiffe mit der Beschädigung von unterirdischen Kabeln in Verbindung gebracht, immer wieder gibt es russische Hackerangriffe und Versuche, die öffentliche Meinung in Deutschland mit russischer Propaganda zu beeinflussen.

Weiterführende Informationen gibt es u.a. hier:

Interview mit Boris Pistorius

Bestandteil der Dokumentation „Angst vor Krieg” ist auch ein Interview mit dem amtierenden Verteidigungsminister Boris Pistorius. Auch das veröffentlichen wir in voller Länge. Ihr findet es hier.

Interview mit Boris Pistorius
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