Mo., 05.02.24 | 23:35 Uhr
Das Erste
ARD History: Leningrad – Stimmen einer belagerten Stadt
"Menschen der Zukunft!" – mit diesem Zuruf einer Leningraderin beginnt der Film von Artem Demenok über eine der großen Untaten des Zweiten Weltkrieges: "Eroberer und Krieger künftiger Schlachten! Habt mehr Respekt und Zärtlichkeit für Städte! Denkt daran, dass Städte beim Untergang schreien. Denn ihr Tod ist unwiderruflich und kann von niemandem und niemals gerechtfertigt werden."
80 Jahre ist das her. Und heute? Wir selbst sind die Menschen der Zukunft – und könnten erschrecken über die Gegenwart dieser Vergangenheit.
Die Blockade Leningrads hat in diesem Film ein Frauengesicht. Denn die meisten der Aufzeichnungen stammen von Frauen. Es sind Tagebücher des Sterbens – oder des Überlebens. Versuche, sich selbst zu bewahren, durchzustehen, nicht hinzustürzen und liegen zu bleiben wie so viele Entkräftete, Sterbende. Mühsam der alles lähmenden Schwäche abgerungene, schonungslose Zeilen. Die Schreiberinnen fürchten sich nicht vor dem Feind und nicht vor der Kommunistischen Partei, die sich als unfähig erwiesen hat. Die verantwortlich ist dafür, dass die einen zu essen haben, die anderen nicht: "Es hieß doch: „Wir sind auf den Krieg vorbereitet. Oh, Ihr Abenteurer, Ihr Schurken, Ihr rücksichtslosen Schurken!" – "Manchmal bricht Weinen in die Stille. Das heißt: eine Brotkarte wurde gestohlen. Niemand fängt stürzende Menschen auf. Stumpf und gleichgültig gehen die Toten von morgen vorbei." – "Auf allen Fotos von Stalin eine unglaubliche Selbstgefälligkeit. Wie geht es jetzt dem armen Narren, der glaubte, er sei wirklich der große, allmächtige, allweiseste, göttliche Augustus?"
Kein Wunder, dass diese Stimmen nach dem Krieg ungehört verklangen, ja: unterdrückt wurden. Sie passten nicht zum Pathos des Leningrader Heldenlieds, das nun offiziell angestimmt wurde. Der Hungertod ist kein Heldentod.
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