Prominente Kriegskinder im Rückblick auf ihr Leben
Autorin: Barbara Stambolis
Als der 1943 geborene Horst Köhler 2004 Bundespräsident wurde, war seine Karriere beispielhaft. Sein Lebensweg – "vom Flüchtlingskind zum Staatsoberhaupt“ – ließ sich mühelos in einen Hauptstrang bundesdeutscher Meistererzählungen einflechten. Er selbst allerdings wollte seine persönliche Geschichte so nicht öffentlich ausbreiten und setzte bereits mit dem Titel seiner Autobiographie aus dem Jahr 2004 "Offen will ich sein und unbequem" einen nachdenklich reflektierenden Akzent. Doch natürlich sprach sich herum, dass Köhlers Leben bis zum Alter von 14 Jahren von Flucht und Umsiedlungen geprägt war.
Rund 60 Jahre nach Kriegsende öffneten sich gleichsam Erinnerungsschleusen. Zahlreiche Kriegskinder, in der Regel zwischen 1930 und 1945 geboren und somit „in die Jahre gekommen“, meldeten sich zu Wort und äußerten sich zu ihren Kriegs- und Nachkriegserfahrungen. Zu den Prominenten gehört beispielsweise Altkanzler Gerhard Schröder (geb. 1944). 2004 besuchte er erstmals am Rande eines Staatsbesuches in Rumänien das Grab seines im Alter von 32 Jahren – wenige Monate nach der Geburt des Sohnes – in Rumänien gefallenen Vaters Fritz Schröder. In seiner Autobiographie "Entscheidungen. Mein Leben in der Politik" (2006) finden sich Überlegungen zu seiner kriegsbedingten Vaterlosigkeit. Auf Schröders Schreibtisch im Kanzleramt stand ein Bild seines Vaters. Rückblickend vermutete Schröder: "Beim Nachsinnen über meine Kindheit und Familie frage ich mich hin und wieder, welche Gründe und Hintergründe meine ziemlich erstaunliche Karriere in meiner eigenen Herkunft hat." Am 12. März 2007 sprach der langjährige stellvertretende Chefredakteur des ZDF, ab 1998 bis 2007 Intendant des SWR, Peter Voß (geb. 1941), ebenfalls ein vaterloser Sohn, in einer Fernsehsendung mit Schröder über seine Kindheit (Bühler Begegnungen extra. SWR/3sat).
Weitere vaterlos Aufgewachsene ließen sich hinzufügen, etwa der Politiker Oskar Lafontaine (geb. 1943), der Wirtschaftsmanager Hans-Olaf Henkel (geb. 1940) oder der Journalist und Diplomat Uwe-Karsten Heye (geb. 1940). In seinem Buch "Nachgetragene Liebe" thematisierte der Schriftsteller Peter Härtling (1933– 2017) das Verhältnis zu seinem Vater, der 1945 in russischer Gefangenschaft umkam, so: "Ich muss Spuren lesen, die du mir hinterlassen hast. Ich fange an dich zu lieben. Ich bin älter als du. Ich rede mit meinen Kindern, wie du nicht mit mir geredet hast, nicht reden konntest."
Als rote Fäden ziehen sich durch ihre Lebenserzählungen folgende Aussagen: Kriegskinder haben angepackt, aufgebaut und sich in hohem Maße gesellschaftlich und politisch engagiert. Was verbindet sie, trotz unterschiedlichster Biografien? Ein hohes Verantwortungsbewusstsein, aber auch eine Getriebenheit und Unruhe, vielfach beruflich bedingtes Unterwegssein, ehrenamtliches Engagement im "Ruhestand". Vielleicht hat Hannes Wader (geb. 1942) in einem Lied, das "Erinnerung" betitelt ist und das Kriegskinder von einst noch heute zu Tränen rührt, besonders eindringlich eine seelische Befindlichkeit zum Ausdruck gebracht, die sich nur schwer analytisch fassen lässt. Darin heißt es: "… ich erinnre mich zurück/ Bis in mein drittes Lebensjahr/ Da schickte mir mein Vater/ Der in Norwegen war/ Als Soldat, um die Weihnachtszeit/ ‚ne Eisenbahn aus Holz/ … Wenn ich des Nachts, die Lok im Arm/ Auf meinem Kissen schlief/ Geschah es oft, dass ich im Traum/ Nach meinem Vater rief/ Dass er trotzdem niemals kam/ Konnte ich noch nicht verstehn/ und so fasste ich den Plan/ Zu ihm nach Norwegen zu gehen." Das Beeindruckende an diesem Lied ist der Refrain: "Ja, vielleicht sind wir Menschen/ nur dazu geboren/ um ruhelos zu suchen bis zum Schluss./ Auch ich hab irgendwann einmal/ etwas verloren/ was mir fehlt und was ich/ wiederfinden muss.“ Das "Verlorene" kann eine Person oder ein Ort, vielleicht eine Kindheitsheimat sein.
Wenn sich Prominente der Kriegskindergeneration mit ihren Müttern und Vätern befassten, fragten sie nicht selten nach der Schuld ihrer Eltern oder zumindest nach Verstrickungen in das NS-Unrechtsregime. Es war zweifellos einfacher, sich mit einem Vater auseinanderzusetzen, der keine Schuld auf sich geladen hatte. So erschien bereits 2004 mit Wibke Bruhns‘ (1938– 2019) "Meines Vaters Land" das Buch einer vaterlosen Tochter, die den Spuren eines Mannes folgte, dessen Leben durch seinen aktiven Anteil am Widerstand geprägt gewesen war. Bruhns‘ Spurensuche, die intensiv begonnen hatte, nachdem die Mutter fast 90-jährig gestorben war, war mit von der Entdeckung ausgelöst worden, eigentlich wenig über den Vater, Hans Georg Klamroth, zu wissen. Bruhns wörtlich: "Nicht den Schatten einer Erinnerung gibt es in mir. Ich war ein knappes Jahr alt, als der Krieg begann. Von da an war der Vater so gut wie nie zu Hause. Aber ich erkenne mich in ihm – seine Augen sind meine Augen, ich weiß, dass ich ihm ähnlich sehe. Ich kneife mich in den Unterarm: Diese Haut gäbe es nicht ohne ihn. Ich wäre nicht ohne ihn. Und was weiß ich über ihn? Nichts weiß ich."
In solche erzählten Erinnerungen fügen sich beispielsweise auch die von Alice Schwarzer (geb. 1942) ein, die 2011 unter dem Titel "Lebenslauf" herauskamen und ihrem Großvater Ernst Schwarzer gewidmet sind. Letzterer, den sie "Papa" nannte, habe mütterliche und väterliche Eigenschaften gehabt, ihr "Breichen" zubereitet und sie beschützend auf dem Arm getragen. Ihr Großvater, der in ihrer Kindheit und Jugend bedeutsam war, habe durchaus seinen Anteil daran, dass sie Feministin geworden sei, so Schwarzer, und ist sich bewusst, dass mehr dazu gehörte.
Manche subjektiv-persönliche Kindheitsdeutungen lassen sich gut mit entsprechenden gesellschaftlichen Wandlungsprozessen verbinden, mit zunehmenden Bildungs- und Aufstiegschancen beispielsweise. Die gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1960er und 1970er Jahren haben atmosphärisch und im Sinne eines allmählichen Wandels von Einstellungen und "Mentalitäten" im Leben vieler Menschen Spuren hinterlassen. Im Rückblick betonen Autorinnen und Autoren gerne positive Entwicklungslinien. Schwerer ist es, sich mit Lebenswegen zu befassen, die der Krieg und seine Folgen in tragischer Weise dunkel überschatteten. Das Schicksal Hannelore Kohls (1933–2001) dürfte ein Beispiel sein, das wie manch andere nicht dazu angetan ist, im Detail enthüllt beziehungsweise ausgeleuchtet zu werden.
Über die Autorin: Prof. Dr. phil. habil. Barbara Stambolis ist Historikerin, Professorin in Neuerer und Neuester Geschichte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Studien zu Kriegskindheiten und ihren Folgen sowie zu Jugend- und Generationengeschichte im 20. Jahrhundert.
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