Mo., 09.10.23 | 00:25 Uhr
Das Erste
Denis Scheck empfiehlt Alan Garner: "Treacle Walker"
Alan Garner ist ein ausgemachter Heimatdichter, fast alle seine Werke spielen im Nordwesten Englands in der Grafschaft Cheshire, wo er geboren wurde und aufwuchs. In "Treacle Walker" erzählt Alan Garner die Geschichte einer Freundschaft zwischen dem Lumpensammler Treacle Walker und einem kleinen Jungen namens Joseph Coppock, der allein in einem großen Haus lebt und eine Augenklappe trägt wie ein Pirat. Er sei "schwachsichtig", sagt Joseph Coppock über sich selbst, aber der Lumpensammler Treacle Walker belehrt ihn eines Besseren: Er besitze die Gabe der "Glamourie", könne in zwei Welten gleichzeitig sehen. Joseph Coppocks merkwürdig zeitentrückter Alltag wird von drei Zügen bestimmt, die morgens, mittags und abends an seinem Haus vorbeifahren. Zeitentrückt ist ein gutes Stichwort für dieses herrlich spleenige Juwel von einem Roman, denn das Lebensthema des inzwischen fast 90jährigen Alan Garner ist in der Tat die Zeit. "Il tempo è ignoranza", Zeit ist Unwissenheit lautet denn auch das dem Buch vorangestellte Motto des italienischen Physikers Carlo Rovelli. In der großen Bewährungsprobe, die Joseph Coppock bestehen muss, prallen Mythos und Logos, uralte Legenden, und Quantenphysik, Fantasy und Hightech aufeinander. Entstanden ist so eine ebenso altersweise Erzählung über Fantasie und Wirklichkeit: profund und doch federleicht. "Treacle Walker" ist ein Sprachfeuerwerk, ach was, eine Sprachorgie – und einer der zauberhaftesten Texte seit Lewis Carolls "Alice im Wunderland". Wenn Sie wissen wollen, was Britishness in der Literatur ausmacht: Alan Garners "Treacle Walker" ist ein Schnellkurs in Literarizität und enthält von Jane Austen über Tolkien bis zu Salman Rushdie alles, was die literarische Größe Großbritanniens definiert. So britisch wie Marmite – genial!
Stand: 08.10.2023 18:43 Uhr
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