So., 21.04.24 | 23:55 Uhr
Das Erste
Denis Scheck empfiehlt: "James" von Percival Everett
Kontrafaktur nennt man in der Kunst einen Gegenentwurf. Genau so einen Gegenentwurf hat Percival Everett geschaffen. Sein Roman "James" reagiert auf eines der berühmtesten Werke der Literatur überhaupt: auf "Huckleberry Finn" von Mark Twain.
Everett erzählt die Geschichte von Huck und Tom Sawyer aus der Perspektive des Sklaven. Dieser heißt nun James und nicht Jim, und auch sonst ist einiges anders in Everetts Erzählung: In einer wunderbaren Fantasie ist das Sklaven-Pidgin, in dem Twain im Original den Schwarzen Jim reden lässt, bloß eine Tarnung für die dummen Weißen. Tatsächlich sind die Schwarzen in Everetts Roman passionierte Leser und räsonieren in Abwesenheit der Weißen lieber über die feinen Unterschiede zwischen proleptischer und dramatischer Ironie oder träumen von Streitgesprächen mit Voltaire oder John Locke. Was nicht heißt, dass die Action in "James" auf der Strecke bleibt: Die Geschichte von der Flucht des Sklaven James über den Mississippi und die Befreiung seiner Familie hat durchaus Züge von Quentin Tarantinos "Django Unchained".
Vor allem und hauptsächlich ist Everetts Roman aber ein geniales Sprachfest, das zu genießen gerade die einfallsreiche und sublime deutsche Übersetzung von Nikolaus Stingl einlädt. So gelingt Everett das nicht geringe Kunststück, einen ins Herz der gegenwärtigen Debatten über Rassismus und Identitätspolitik zielenden Roman zu schreiben, der sich gleichzeitig vor der Größe Mark Twains verneigt.
Stand: 21.04.2024 19:16 Uhr
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