Mo., 14.10.19 | 00:05 Uhr
Das Erste
Denis Scheck empfiehlt "Archiv der verlorenen Kinder"
Politisch engagierte Literatur ist meinem Leserherzen nicht sonderlich nah. Ob jemand gegen den Klimawandel, für den Schwarzwaldotter oder gegen das Vergessen schreibt, ist mir zunächst mal relativ gleichgültig: mich interessiert, wie da geschrieben wird. An politischer Literatur stört mich oft die Vernachlässigung der Ästhetik, und das heißt in der Literatur immer: die Vernachlässigung der Form. Wer eine Botschaft hat, soll aufs Telegrafenamt gehen und keine Romane schreiben, sage ich mir mit Ernest Hemingway.
Bloß gibt es keine Telegrafenämter mehr. Und ich bin mir ehrlich gesagt gar nicht so sicher, ob Literatur gerade in Zeiten medialer Abgeklärtheit nicht doch das beste Medium ist, uns Unschockierbare noch zu schockieren, aufzurütteln und zumindest zum Nachdenken zu bringen.
Eine einzige Wutrede gegen die Einwanderungspolitik der USA
Der Roman "Archiv der verlorenen Kinder" von Valeria Luiselli hat ganz klar eine Botschaft. Er ist eine einzige Wutrede gegen die Einwanderungspolitik der USA. Valeria Luiselli ist Mexikanerin, als Diplomatenkind aber sehr weit auf diesem Planeten rumgekommen; sie lebt in New York, dies ist ihr erster Roman, die sie auf Englisch geschrieben hat. Valeria Luiselli erzählt von Kindern aus mittelamerikanischen Staaten, die unbegleitet auf Güterzügen bis an die US-amerikanische Grenze reisen und dort aufgegriffen, interniert und statt Asyl zu erhalten immer öfter wieder abgeschoben werden. Alles klar, denkt man, das geht gegen Donald Trump und seinen Mauerwahnsinn. Das stimmt, und doch wäre das viel zu kurz gegriffen. Der Clou an diesem Ausnahmeroman ist nämlich, dass er seinen Lesern unentwegt zuruft: sei Dir nicht zu sicher!
Denn verpackt hat Luiselli ihre sehr politische Story in eine komplexe Beziehungsgeschichte: wir erleben das Zerbrechen einer Ehe während einer langen Autofahrt von New York nach Arizona, also quer durch die USA. Eine Patchworkfamilie mit Vater und Mutter, fünfjähriger Tochter und zehnjährigem Sohn denkt darüber nach, was ihre Familie und ihren Staat eigentlich zusammenhält. Und Valeria Luiselli brennt in diesem Roman ein so fulminates formales Feuerwerk ab – genügt es zu sagen, dass das Schlusskapitel aus 24 Polaroidfotos besteht, die der Zehnjährige aufgenommen hat? -, dass auch noch der hartherzigste literarische Avantgardist in die Knie geht: Dies ist der sehr seltene Fall eines Romans, dessen innovative Konstruktion ihn davor bewahrt, in die Falle gefühlsseligen politischen Kitsches zu treten – ein Roman also, dessen Form den Inhalt rettet. Also vertrauen Sie mir, ich weiß was ich tue, und lesen Sie Valeria Luisellis "Archiv der verlorenen Kinder", deutsch von Brigitte Jakobeit, erschienen im Verlag Antje Kunstmann.
Stand: 14.10.2019 00:05 Uhr
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