Mo., 12.10.20 | 00:05 Uhr
Das Erste
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt
Die Geburt eines Kindes bei Eis und Schnee, die letzten Tomaten des Sommers im Garten, schlammbespritzte Stiefel, ein Kuss unter dem Mandelbaum, die gefälschte Hochzeitsurkunde, um endlich aus dem Rumänien Ceausescus fliehen zu können: Das Leben fängt erst an, wenn das Überleben gesichert ist. Damit ist aber noch nicht viel gesagt über dieses Leben von, zum Beispiel, Florentine und Hannes, Samuel oder Stana.
Ein alter Pfarrhof im Banat ist hier das Zentrum der Saga einer Familie im 20. Jahrhundert, in der es Hochzeiten gibt und Todesfälle, Flucht und Wiedersehen, Essen, Trinken, Lachen und stilles Weinen, das ganz normale Leben also, und manchmal auch die Worte, darüber zu sprechen.
'"Welche Farbe hat die Traurigkeit?", hatte Samuel gefragt, als Liv sich in einem Sommer im Banat weigerte zurückzufahren. Sie war auf das Dach des Schuppens geklettert und verkündete, sie bleibe hier, man könne ihr Pakete aus Deutschland schicken.
"Nachtblau."
"Wo fängt sie an?"
"Hier", sagte Liv und legte die Hände auf die Brust.
Irgendwann fragte er, ob die Traurigkeit einen Namen habe.
Und sie sagte den Namen der Traurigkeit.'
Wie lebt man ein glückliches Leben? Und was ist das überhaupt, das Glück? Und die Freundschaft? Oder: Die Liebe? Das sind die Fragen, denen Iris Wolff in ihrem Roman klug und zart nachspürt. Und im Leben von ein paar Menschen, die in ihrem kleinen Dorf im Osten leben, die vielleicht einmal nach Berlin kommen oder auf eine namenlose Insel, die kurz in einem Folterkeller der Securitate verschwinden oder tatsächlich auch mal ein Flugzeug stehlen, findet sie tatsächlich die Antwort. Diesen Weg mit ihr zu gehen, auf diesen Roman und seine wunderbare Sprache also sich einzulassen, in ihm zu versinken, ist ein großes, sehr berührendes Erlebnis.
Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, studierte Deutsche Literatur sowie Malerei in Marburg und ist mit diesem Roman für den Bayerischen Buchpreis nominiert.
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt. Klett-Cotta Verlag.
Stand: 11.10.2020 19:38 Uhr
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