So., 01.05.22 | 23:35 Uhr
Das Erste
Denis Scheck empfiehlt: "Das Traumbuch" von Martin Walser und Cornelia Schleime
Während wir schlafen, müssen manche Bereiche unseres Gehirns wachen. Es sind die Teile unseres Gehirns, die jene Geschichten aushecken, die wir Träume nennen. Der Schriftsteller Martin Walser hat über einen Zeitraum von 25 Jahren seine Träume aufgeschrieben und daraus nun zusammen mit der Malerin Cornelia Schleime ein ungewöhnliches Buch gemacht: "Das Traumbuch".
Wovon träumt Martin Walser? Wie wir alle von Erfahrungen extremer Peinlichkeit. Von Versagensängsten, von Prüfungen, die wir nicht bestehen: zum Beispiel, dass Max Frisch zu Besuch kommt und ausgerechnet dann der Weinkeller bis auf die letzte Flasche ausgetrunken ist. Dass er zum Mörder geworden ist und die Leiche nur unzureichend vor der Polizei versteckt hat. Eifersuchtssituationen bestimmen seine Träume, aber auch verblüffende Einsichten: "Warum schämt man sich, Träume aufzuschreiben? Nicht wegen des möglicherweise sexuellen Anteils. Nur weil in den Träumen die Rollen und Gewichte nicht so verteilt sind wie in der Wirklichkeit. Wenn zum Beispiel die Ausscheidungen eine größere Rolle spielen, als wir als Erwachsene zugeben bzw. wahrhaben wollen."
Walsers Träume sind teilweise urkomisch, etwa wenn ein pikierter Thomas Mann sich bei ihm beschwert: "Sie raten ab von mir, ja!" Es gibt Flugträume, Nacktträume, Albträume. Und natürlich treiben ihn in seinen erotischen Träumen auch typische Männersorgen um. Bertolt Brecht macht sich Gedanken über die Länge seines Penis, und ein Gespräch mit Sigmund Freud scheitert an dessen Überschlauheit: "Man konnte nichts sagen, weil er immer schon wusste, was man sagen würde. Das war lästig." Es sind solche Sätze, Einfälle und Beobachtungen, für die ich Martin Walser liebe.
Die Bilder von Cornelia Schleime entführen in eine eigene Traumwelt: Aus Kafkas Kopf wächst ein Vulkan, eine Dame balanciert auf zwei Möwen im Flug über den Bodensee, eine Zentaurin reitet durch Wasserburg. Martin Walser und Cornelia Schleime ist etwas ganz und gar Außerordentliches gelungen: Hier ist Schönheit und Poesie entstanden. Also vertrauen Sie mir und lesen Sie "Das Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf" von Martin Walser und Cornelia Schleime, erschienen im Rowohlt Verlag.
Stand: 01.05.2022 23:35 Uhr
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