SENDETERMIN So., 25.04.21 | 23:35 Uhr | Das Erste

Denis Scheck kommentiert die Top Ten Belletristik

Denis Scheck kommentiert die Top Ten Belletristik | Video verfügbar bis 25.04.2026 | Bild: DasErste.de

Platz 10 | Joël Dicker: "Das Geheimnis von Zimmer 622"

Was ist falsch an diesem Satz: "Wäre er Anwalt gewesen, hätten seine Anwaltskollegen keine Klienten mehr gehabt."? Anwälte haben im Deutschen Mandanten, keine Klienten. Nun gut, das ist eher ein Tadel an die Übersetzerinnen Michaela Meßner und Amelie Thoma als am Autor. Aber just so daneben wie die Übersetzung ist auch die Konstruktion dieses verzopften Krimis um einen Mord in einem Luxushotel in den Schweizer Alpen und eine Intrige in einer Genfer Privatbank. "Nein, mein nächster Roman wird kein an den Haaren herbeigezogener Krimi sein!", lässt Joël Dicker darin einen Schriftsteller namens Joël Dicker sagen. Eins steht fest: Joël Dicker lügt.

Platz 9 | Ewald Arenz: "Der große Sommer"

Ein Schülerroman, geschrieben von einem Lehrer: Das ist wie ein Roman über einen Fuchs aus der Feder eines Hasen. Aber Ewald Arenz gelingt in diesem Roman eine konventionell und doch kunstvoll erzählte Geschichte über einen Schulversager, die erste große Liebe und eine nostalgische Hommage an die Bundesrepublik des Jahres 1979. Ewald Arenz: ein Name, den man sich merken muss.

Platz 8 | Carsten Henn: Der Buchspazierer"

Carsten Henn operiert in einem altbekannten Genre, dem Buchhandels-Porno. Selten habe ich einen Roman in die Hand genommen, der so gründlich in seinen selbst erschaffenen Klischees ersäuft wie diese peinliche Geschichte um einen 72-jährigen Buchhändler, der für jeden den passenden Schmöker zum Seelenstreicheln parat hat: "Er war ein schöner dunkelhaariger Mann, groß gewachsen, edle Wangenknochen, markantes Kinn – und eine Traurigkeit, die über allem lag wie grauer Puder. Er trug wie stets einen dunkelblauen Zweireiher mit einer frischen weiße Orchideenblüte am Revers, und seine schwarzen Lederschuhe glänzten, als ginge er zu einem Opernball." Diesen Schmonzes hätte Hedwig Courths-Mahler nicht besser hinbekommen.

Platz 7 | Matt Haig: "Die Mitternachtsbibliothek"

Dass man sehr wohl auch niveauvolle Buchhandels- beziehungsweise Bibliothekspornos schreiben kann, beweist Brite Matt Haig in dieser Geschichte um eine Selbstmörderin, die im Limbo die Möglichkeit enthält, in der Bibliothek ihrer alternativen Lebensläufe zu stöbern.

Platz 6 | Alena Schröder: "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid"

Dieser Debütroman erzählt eine Berliner Familiengeschichte über vier Generationen – der Titel bezieht sich auf ein von den Nazis geraubtes Gemälde von Vermeer – und liest sich nicht nur wahnsinnig süffig, sondern besticht durch erzählerische Intelligenz und soziologischen Scharfsinn. Eine Freude!

Platz 5 | Helga Schubert: "Vom Aufstehen"

Ein Buch wie ein Fest: gleich mehr dazu im Anschluss.

Platz 4 | Dirk Rossmann: "Der neunte Arm des Oktopus"

Was wäre, wenn China, Russland und die USA eine Allianz bildeten, um dem Rest der Welt eine klimafreundliche Politik aufzuzwingen, eine effiziente Geburtenkontrolle durchzusetzen und erneuerbaren Energien den Weg freizumachen? Undemokratischer Alptraum oder schöne neue Welt? Schon klar, dieses Buch wurde mit der Werbemacht eines Drogiermarkt-Millardärs in die Bestsellerliste gedrückt. Aber das Romandebüt Dirk Rossmanns ist erstens amüsant und unterstreicht zweitens einmal mehr: Die Zukunft gehört dem alten reichen weißen Mann.

Platz 3 | Benedict Wells: "Hard Land"

Wie gesagt: ein gutes Buch!

Platz 2 | Amanda Gorman: "The Hill We Climb"

Diese zweisprachige Ausgabe von Amanda Gormans mitreißendem Gedicht zur Amtseinführung Joe Bidens löst literaturkritische Schizophrenie in mir aus: so stark der Originaltext, so müde, matt und mutlos die Übersetzung.

Platz 1 | Juli Zeh: "Über Menschen"

Ein beredtes Zeugnis vom Humor Juli Zehs legt schon der Titel ihres jünsten Romans ab: Nach "Unter Leuten" erzählt Zeh jetzt also in "Über Menschen" von einer Aussteigerin aus Berlin, einem Dorfnazi in einem Kaff auf dem Land in Brandenburg und von der Suche nach Freiheit und Gemeinschaft in Zeiten der Pandemie. Dieser Roman stellt genau die richtigen Fragen an jene, die sich immer im alleinigen Besitz der richtigen Antworten wähnen. Ein Prüfstein für alle intellektuell Trägen, für die sich in ihren selbstgerechten Bubbles behaglich Eingerichteten, kurz: für unsere ach so moralisch korrekten modernen Pharisäer.

Stand: 03.05.2021 16:42 Uhr

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Mitteldeutscher Rundfunk
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