So., 13.09.20 | 23:35 Uhr
Das Erste
Denis Scheck kommentiert die Top Ten Belletristik
Platz 10: Wladimir Kaminer – "Rotkäppchen raucht auf dem Balkon" (Wunderraum. 202 S., 20 Euro)
Der deutsche Vorzeigerusse Vladimir Kaminer ist eine Art Erma Bombeck 2.0 und liefert gediegene Kolumnenkunst von überschaubarer Gedankentiefe. So unterhaltsam manche dieser Texte sind, so unabweislich der Eindruck, dass Kaminer niemals den im Verlauf der Lektüre immer größer werdenden "elephant in the room" thematisiert: Russland unter Putin. Aber kann man wirklich "privat Russe, beruflich deutscher Schriftsteller" sein, wie sich Kaminer im Klappentext bezeichnet, und sich um dieses Thema herummogeln?
Platz 9: Stephen King – "Blutige Nachrichten" (Deutsch von Bernhard Kleinschmidt, Heyne, 559 S., 24 Euro)
Ein iPhone der ersten Generation klingelt im Grab, Kalifornien geht unter, das Internet fällt aus, und ein Fernsehreporter ist merkwürdigerweise immer als erster am Schauplatz blutiger Ereignisse. Stephen Kings sublime erzählerische Meisterschaft erweist sich auch in diesem Band mit vier Novellen, deren lang nachwirkender Grusel nicht von den halb verwesten Toten in den Gräbern ausgeht, sondern im Horror unserer technologischen Gegenwart liegt.
Platz 8: David Grossman – "Was Nina wusste" (Deutsch von Anne Birkenhauer, Hanser, 351 S., 25 Euro)
Eine tiefe Enttäuschung hat mir dieser Roman des in der Vergangenheit zu Recht oft gerühmten Erzählers David Grossman bereitet. Aus Sicht der Enkelin erfahren wir vom langen Leben einer gläubigen jugoslawischen Sozialistin, die unter Tito Anfang der 50er Jahre in einem Gulag landet, weil sie nicht bereit ist, ihren Mann zu denunzieren, der sich als Offizier das Leben genommen hat. Der Verzicht auf jegliche historische Hintergründe und die politische Dimension ihres Handelns lässt Grossmans Protagonisten jedoch als reine Familientiere erscheinen, denen es in ihrem Leben ausschließlich um möglichst viele gesunde Enkelkinder ging. So liest sich sein Roman wie die Jahresgabe des Deutschen Kinderschutzbundes. Fad.
Platz 7: Renate Bergmann – "Dann bleiben wir eben zu Hause!" (Ullstein, 77 S., 8 Euro)
Klebrig wie Eierlikör ist diese unlustige Dönekensammlung eines Mittvierzigers namens Torsten Rohde, der sich für seine schlappen Texte eine Online-Omi namens Renate Bergmann ausgedacht hat. Dieses Büchlein beweist vor allem eines: auch Corona produziert Kitsch.
Platz 6: Ursula Poznanski – "Cryptos" (Loewe, 444S., 19,95 Euro)
Die Bewohner einer durch die Klimakatastrophe nahezu unbewohnbaren Erde flüchten sich in die künstlichen Computerspielwelten des Konzerns Mastermind. Bis dort nicht mehr nur virtuell gestorben wird … Ursula Poznanskis Spezialität ist der literarische Weltenwechsel. Ihr neuer Jugendroman erweist sie bei aller Angelehntheit an die "Matrix"-Filme einmal mehr auf Höhe der Theorie der Virtualität unserer Gegenwart.
Platz 5: Marco Balzano – "Ich bleibe hier" (Deutsch von Maja Pflug, Diogenes, 286 S. 22 Euro)
Ein Frauenschicksal im Vinschgau des 20. Jahrhunderts, geprägt von Zwangs-Italianisierung, einem verlorenen Kind, einem Staudammprojekt sowie der Entscheidung zwischen zwei Faschismen: davon erzählt der Mailänder Autor Marco Balzano. Eine bewegende Nachhilfestunde in Südtiroler Geschichte, mitunter etwas rührselig.
Platz 4: Bernhard Schlink – "Abschiedsfarben" (Diogenes, 232 S., 24 Euro)
Bernhard Schlink ist so etwas wie der intellektuelle Gegenpol zu Christoph Schlingensief. Setzte Schlingensief in seinen Aktionen auf Hysterie, ist Schlinks Spezialität die literarische Akribie, die mitunter ins Pedantische kippen kann. Über die Realität der Bundesrepublik sagt das Wohlstandsmilieu der Hauptfiguren in Schlinks neuem Erzählungsband jedenfalls wesentlich mehr aus als die unterkomplexe Provokunst eines Schlingensiefs.
Platz 3: Delia Owens: "Der Gesang der Flusskrebse" (Deutsch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Hanserblau, 461 S., 22 Euro)
Dieser in den Sümpfen North Carolinas spielender Zwitter aus Krimi und Nature Writing hat zu Recht die Herzen des deutschen Buchhandels erobert.
Platz 2: Stephenie Meyer – "Bis(s) zur Mitternachtssonne" (Aus dem Englischen von Henning Ahrens, Sylke Hachmeister, Alexandra Rak, Annette von der Weppen, Carlsen, 843 Seiten, 28 Euro)
Das Grauen ist zurück. In ihrem neuen Roman erzählt Meyer denselben Plot wie aus dem ersten Schund-Schmöker ihrer Blusauger-Saga um Bella und Edward – nur jetzt aus der Perspektive des Vampirs Edward. Die dümmste Schwarte auf einer deutschen Bestsellerliste seit langem. Niederschmetternd.
Platz 1: Robert Seethaler – "Der letzte Satz" (Hanser Berlin, 126 S., 19 Euro)
Auch zwischen diesem Text und seiner Hauptfigur herrscht ein gewisses vampirhaftes Verhältnis. Für das magenkranke Mickermännlein, das da in Decken gewickelt an Deck über den Atlantik schaukelt, werden sich die wenigsten erwärmen. Nur wer weiß, dass es sich um Gustav Mahler handeln soll, wird kurz Interesse entwickeln. "Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür", lässt Seethaler seinen Mahler sagen. Gut, dass Thomas Mann das nicht gewusst hat, ich hätte ungern auf den "Dr. Faustus" verzichtet – sehr gern aber auf dieses Büchlein.
Stand: 13.09.2020 23:35 Uhr
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