Mo., 23.11.20 | 00:05 Uhr
Das Erste
Denis Scheck kommentiert die Top Ten Sachbuch
Platz 10: Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge – "Trotzdem"
Das durch die Pandemie ausgelöste intelligente Geplauder der beiden schreibenden Juristen Kluge und von Schirach ist anregend und enthält trotz seiner Kürze einige schöne Highlights. Etwa wenn apropos eines Vergleichs zwischen dem furchtbaren Staatsrechtler Carl Schmitt und Machiavelli von Schirach in Kirchentagsrhetorik salbadert: "Das Warme, die Freundlichkeit und Güte – das sind die Dinge, auf die es ankommt. Hohe Intelligenz und umfassende Bildung bedeuten nichts, wenn sie nicht menschenfreundlich sind." Und Alexander Kluge dann nicht etwa "Kakao!" ruft, sondern cool erwidert: "Was halten Sie davon, wenn der franzöische Präsident Macron sagt: "Wir sind im Krieg?"
Platz 9: AK Ausserkontrolle und Josip Radovic – "Auf Staat sein Nacken"
Ein vorbestrafter Kleinkrimineller aus dem Wedding macht auf dicke Hose und erzählt, wie ihn Musizieren davor bewahrte, ein noch schlimmerer Junge zu werden. Aggressiv im Ton, schwach sowohl im Beobachtungs- wie im Erkenntnisvermögen, unsäglich stolz auf die eigenen Ressentiments: dieser buchähnliche Gegenstand dokumentiert nicht nur einen individuellen geistigen Offenbarungseid, sondern ist auch durchaus Symptom und zugleich Produkt einiger bedauerlicher gesellschaftlicher Misstände. Eine Zumutung.
Platz 8: Sönke Neitzel – "Deutsche Krieger"
Gibt es eine Kriegerkaste in Deutschland, die sich zwischen Kaiserreich und Berliner Republik gar nicht so sehr gewandelt hat? In diesem überfälligen Grundlagenwerk analysiert der Militärhistoriker Sönke Neitzel das Militär vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik und entdeckt bei allem Wandel in den Institutionen erstaunliche Kontinuiten. Vielleicht das Buch, aus dem ich in diesem Jahr am meisten über mein Land erfahren habe.
Platz 7: Richard David Precht – "Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens"
Wir müssen aufhören, Maschinen über Menschen urteilen zu lasssen! In diesem bitter nötigen Aufschrei gegen unsere allgegenwärtige schleichende Entmündigung durch KI fordert Precht: Nehmt die Programmierer und ihre Geldgeber endlich an die Kandare!
Platz 6: Mary L. Trump – "Zu viel und nie genug"
Dieses von Rachsucht und geringem Erkenntniswert geprägte Klatschbuch über einen bösen Onkel im Weißen Haus ist zum Glück inzwischen Makulatur. Wollen wir nicht hoffen, dass es in vier Jahren noch einmal aufgelegt wird.
Platz 5: Hamed Abdel-Samad – "Aus Liebe zu Deutschland"
"Religionskritik hieß früher Aufklärung und wurde von Intellektuellen bejubelt. Heute gilt sie schnell als Populismus, Hetze gegen Minderheiten, Verletzung religiöser Gefühle.", schreibt der Religionskritiker Abdel-Samad und bricht in seinem Buch über die deutsche Identität argumentationsreich eine Lanze für Meinungsfreiheit und Mohammed-Karikaturen.
Platz 4: Heino Falcke mit Jörg Römer – "Licht im Dunkel"
Der deutsche Astronom Heino Falcke erzählt von einer Weltsensation, die eine Epochenschwelle in unserem Bild vom Universum markiert. Was eine vielköpfige Forschergruppe im April 2019 präsentierte, war ein Husarenstück der internationalen Radioastronomie: erstmals war es gelungen, ein Schwarzes Loch – nein, eben nicht zu fotografieren, denn wie will man ein Objekt fotografieren, das so massereich ist, dass es kein Licht entkommen lässt? Aber die Astronomen schafften es immerhin, ein Foto der unmittelbaren Umgebung des Schwarzen Lochs im Zentrum der Galaxis M87 zu erstellen. Ein Buch über einen Geistesblitz.
Platz 3: Campino – "Hope Street"
Ich habe mich selbst überrascht und dieses Buch von Seite eins an wirklich gemocht: der Sänger der Toten Hosen erzählt darin von seiner Liebe zum FC Liverpool. Das finde ich ziemlich langweilig. Elektrisierend spannend aber ist seine Hassliebe zu seinen Eltern, einem deutschen Stalingradveteranen und späterem Richter, und einer englischen Lehrerin. Und zum British Way of Life. Ein gutes, weil überraschend ambitioniertes Buch.
Platz 2: Manfred Lütz – "Neue Irre. Wir behandeln die Falschen"
Ein deutscher Psychiater erzählt aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung anekdotenreich über die wichtigsten Behandlungsfelder von Psychiatrie und Psychotherapie. Die Stärke dieses Buchs sind Sätze, die einen immer wieder an unser kollektives Irresein erinnern, Sätze wie diese: "Letztlich ist Sucht der Preis für das utopische und doch mit allen Kräften von den Normalen betriebene Projekt der Machbarkeit des Glücks."
Platz 1: Monika Gruber und Andreas Hock – "Und erlöse uns von den Blöden"
Vielen Aussagen von Gruber und Hock schließe ich mich gern an. Zum Beispiel: "Das Schöne an unserem Grundgesetz ist, dass auch dumme Ansichten grundsätzlich geäußert werden dürfen." Allerdings markiert dieser Satz auch so in etwa das mittlere Komikniveau dieser Kabaretttexte zu Corona, und darin liegt, aufgebläht auf Buchlänge, ihr Problem. Das Schöne an unserem Buchmarkt ist, dass auch durchschnilttliche, uninspirierte und weitgehend pointenlose Texte grundsätzlich veröffentlicht werden dürfen. Aber für Platz eins der Bestsellerliste ist das eindeutig zu wenig.
Stand: 23.11.2020 00:05 Uhr
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