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"Die Wahlen in Polen haben die Frauen und die Jugend gewonnen"

Die Schriftstellerin Dorota Masłowska und die Filmemacherin Agnieszka Holland über Polens Zukunft nach den Wahlen

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Polens Zukunft nach den Wahlen | Bild: picture alliance / Krzysztof Zatycki

Dorota Masłowska war 32 Jahre jung, als die PiS-Partei 2015 an die Macht kam. Jetzt, nach acht Jahren Alleinherrschaft, wurde die erzkonservative und nationalistische Partei abgewählt. Dorota Masłowska sieht zwei Gruppen, deren Stimme in den letzten Jahren nichts gezählt hat in Polens Politik: die Jugend und die Frauen. Und diese beiden Gruppen haben sich jetzt Gehör verschafft und entscheidend zur Niederlage der PiS-Partei beigetragen. Masłowska sieht bei aller Euphorie, die jetzt in Polens Gesellschaft herrscht, schwierige Zeiten kommen. Denn auch die polnische Gesellschaft ist gespalten. Agnieszka Hollands neuer Spielfilm "Green Border" über die push backs der polnischen Grenzsoldaten gegen Flüchtlinge an der Grenze zu Belarus vor zwei Jahren hatte mitten im Wahlkampf Premiere in Polen. Sie erlebte eine massive Kampagne der Regierung gegen ihren Film. Holland erzählt, dass es sehr mühsam werden wird, die Demokratie in Polen wiederherzustellen. All jene Leute, die die Verfassung gebrochen haben, müssen zur Verantwortung gezogen werden, so Holland. Aber sie hofft, dass es sehr schnell gehen wird, ein offeneres Klima für Künstler und Journalisten im Lande herzustellen. "ttt" hat mit Dorota Masłowska und Agnieszka Holland gesprochen und den Historiker Krzystow Ruchniewicz nach seinen Perspektiven für ein Polen nach der acht-jährigen PiS-Herrschaft gefragt.

Polen vor einem großen Umbruch

Schriftstellerin und Musikerin Dorota Masłowska
Schriftstellerin und Musikerin Dorota Masłowska | Bild: Das Erste

Die Schlangen an den Wahllokalen waren lang, die Leute warteten bis nach Mitternacht. Es war die höchste Wahlbeteiligung seit Jahrzehnten in Polen. Fast 75 Prozent gingen an die Urnen. Nach acht Jahren Alleinherrschaft einer extrem nationalkonservativen Partei sieht es jetzt nach einem großen Umbruch aus. "Wir sind extrem glücklich. Das sind gerade Tage der Euphorie und der Ekstase. Aber es werden schwierige Zeiten kommen... natürlich liegen schwierige Zeiten vor uns", erzählt Schriftstellerin und Musikerin Dorota Masłowska. "Tatsächlich diese Wahlen sind gewonnen durch die jungen Wähler, die sehr oft zum ersten Mal überhaupt wählen gegangen sind", so Historiker Krzysztof Ruchniewicz von der Universität Wrocław. "Was die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Medien und der Künste betrifft, werden sich die Dinge sehr schnell ändern. Und wir brauchen neue Gesetze, damit aus den Institutionen die Zensoren entfernt werden", erklärt Filmemacherin Agnieszka Holland.

Die Frage nach Demokratie

Filmemacherin Agnieszka Holland
Filmemacherin Agnieszka Holland | Bild: Das Erste

Der Machtwechsel, der jetzt in Polen bevorsteht, ist kein normaler. Es ging bei den Wahlen vor zwei Wochen – wie in vielen Demokratien – um keine geringere Frage als die, ob Polen noch eine Demokratie bleiben will!? Oder ob die Reise in die Autokratie, auf der sich das Land befand, unumkehrbar wird. "Die Demokratie war an der Grenze, an einem Scheideweg. Ein Schritt weiter und man hat keine mehr. Oder ein Schritt weniger und man kann sie gerade noch so retten. Denn die Demokratie war in den acht Jahren schon massiv beschädigt worden, weil viele ihrer Institutionen beschädigt wurden", so Agnieszka Holland.

Staatliche Verleumdung bei der Premiere des Spielfilms "Green Border"

Agnieszka Holland bei der Premiere ihres Spielfilms "Green Border"
Agnieszka Holland bei der Premiere ihres Spielfilms "Green Border" | Bild: Das Erste

Die Regisseurin Agnieszka Holland musste vor kurzem noch exemplarisch erleben, wie staatliche Verleumdung funktioniert. Bei der polnischen Premiere ihres Spielfilms "Green Border". Der erzählt eine Geschichte aus dem Jahr 2021, als Flüchtlinge ins Räderwerk der Weltpolitik gerieten, an der Grenze zwischen Belarus und Polen. Agnieszka Holland, die mit "Hitlerjunge Salomon" einen Golden Globe gewann, traf mit ihrem Film einen wunden Punkt: Wie umgehen mit Flüchtlingen? Die polnische Regierung entschied sich für wegschauen und zuschlagen. Die Region an Polens Ostgrenze wurde zum rechtsfreien Raum. Journalisten durften nach kurzer Zeit nicht mehr berichten. Hollands Film erzählt von den brutalen push backs der polnischen Polizei. Dafür wurde sie von der Regierung als "Agentin Putins" und "Nazipropagandistin" verunglimpft. Sogar der Präsident beteiligte sich an dieser Art staatlicher "Filmkritik". "Es überrascht mich nicht, dass unsere Grenzschutzbeamten, die diesen Film gesehen haben, sich an einen Spruch aus der Zeit der Nazi-Besatzung erinnern. Den hatten wir für Leute, die damals ins Kino gingen, um sich die Nazi-Propagandafilme anzusehen. Er lautete: 'Im Kino sitzen nur Schweine!'", so Andrzej Duda, Staatspräsident Polen (21. September 2023).

Die PiS-Partei gewinnt 2015 die Wahlen mit großem Sozialprogramm

2015 gewinnt die PiS-Partei die Wahlen mit großem Sozialprogramm für sozial Schwache
2015 gewinnt die PiS-Partei die Wahlen mit großem Sozialprogramm für sozial Schwache | Bild: Das Erste

Die PiS-Partei hat vor acht Jahren, 2015, die Wahlen gewonnen mit einem großen Sozialprogramm für Menschen mit kleinen Einkommen. Für Rentner, Alleinerziehende, kinderreiche Familien – für sozial Schwache. Und eine Erzählung wurde in Umlauf gebracht: Polen sei von Feinden umgeben, die Polen müssten endlich wieder von den Knien aufstehen und sich auf Nation, Familie und Kirche besinnen. Die Musikerin und Schriftstellerin Dorota Masłowska war 32 Jahre jung, als PiS an die Macht kam. Sie konnte, wie Hunderttausende ihrer Generation, mit der klerikal-nationalistischen Dauerschleife nichts anfangen. "Ein gigantischer Strom von öffentlichen Geldern wurde in diese Propaganda – in Bücher und Filme gesteckt. Und was wir jetzt haben, sind Hunderte unsägliche und schreckliche Filme über das polnische Martyrium und die polnische Mythologie und über irgendwelche obskuren Gestalten aus der katholischen Kirchengeschichte", erzählt Masłowska. "Sie haben eine Matrix geschaffen für ihren Machterhalt. Aber sie haben sich selbst in dieser Matrix verfangen. Und sie haben nicht mehr verstanden, dass da draußen noch eine Welt existiert. Und besonders die Jugend hatte davon die Nase voll", so Holland.

PiS-Partei regiert an der Jugend und den Frauen des Landes vorbei

Historiker Krzysztof Ruchniewicz von der Universität Wrocław
Historiker Krzysztof Ruchniewicz von der Universität Wrocław | Bild: Das Erste

Die PiS-Partei und ihr autoritärer Anführer Kaczyński haben acht Jahre lang an der Jugend des Landes vorbeiregiert. Und die hat ihre Chance zu wählen, jetzt genutzt. "Was sie überzeugt hat... ja, sie können alles verlieren, woran sie sich gewöhnt haben, also an Europa. Dass sie frei ausreisen können, dass sie sich auch mit den anderen ohne große Probleme, ohne große Schwierigkeiten treffen können. Also das heißt, auf einmal mussten sie feststellen, sie können das alles verlieren", erklärt Ruchniewicz. Vor drei Jahren hat sich PiS dann auch noch viele Frauen zum Gegner gemacht – mit dem rigidesten Abtreibungsgesetz Europas. Ein Austragen auch bei schwerer Fehlbildung sei gottgefällig und stärke die schwächelnde Geburtenrate. Die Proteste waren massiv und PiS hat sie ignoriert. "Ich glaube, weder die Frauen noch die Jugend fühlten, dass ihre Stimmen, ihre Meinungen irgendeine Wichtigkeit hatten. Und ich finde, dass es ein großes Glück ist, dass sich das geändert hat", so Masłowska.

60 Prozent der Polen haben PiS abgewählt

Die Wahlen in Polen haben die Frauen und die Jugend gewonnen
Die Wahlen in Polen haben die Frauen und die Jugend gewonnen | Bild: Das Erste

Das Problem von PiS ist nicht, dass sie eine konservativ-national-religiöse Partei ist, sondern dass sie ihre Macht verewigen wollte, indem sie sich den Staat unterwirft: Die Justiz an die Leine nimmt, die Medien gleichschaltet, die Meinungs- und Kunstfreiheit abschafft. 60 Prozent der Polen haben PiS abgewählt. Vermutlich wird es ein langer Weg, das gespaltene Land wieder zu einen. "Ich glaube wirklich, dass das eine sehr schwierige und wichtige Arbeit wird, die Wunden und die Narben zu heilen. In der Gesellschaft die Gräben zuzuschütten", meint Masłowska.

Autor: Ulf Kalkreuth

Stand: 29.10.2023 20:15 Uhr

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