So., 03.12.23 | 23:05 Uhr
Das Erste
Knistern, Ruckeln, Glitch
Wie technische Fehler zu einer neuen Kunstform werden
Sie gehören wie selbstverständlich zu unserem Alltag: Smartphones, Monitore oder Digitalradios. Doch erst der Moment einer Störung – ein zersplittertes Handy-Display, ein eingefrorenes Bild im Videocall oder ein Knistern in der Musikübertragung – lenkt unsere Aufmerksam auf die technische Beschaffenheit dieser Medien. Wie diese Fehler in der Kunst produktiv genutzt werden können, das zeigt das junge und unberechenbare Genre der Glitch Art. Die Münchner Pinakothek der Moderne widmet ihr bis zum 17. März 2024 eine große Sonderausstellung.
Perspektivwechsel
Glitch – das ist die Störung im System. Aufgekommen ist der Begriff in den 1950er Jahren im Fachjargon der Fernsehtechniker, wenn es zum Beispiel um verzerrte Bilder ging. Mittlerweile beschreibt Glitch Programmier- oder Grafikfehler bei Computerspielen, im weiteren Sinne auch Fehlfunktionen bei digitaler Software. Was im Alltag nervt, ist als Stilmittel in der Kunst durchaus willkommen. "Glitch und Störungen sind die absolute Gegenbewegung zu allem, was normiert ist, was einer Norm entspricht", sagt Ausstellungskuratorin Franziska Kunze. "Was auch so toll dabei ist, dass man auch sieht, wie schön das eben auch sein kann, einen Fehler zu machen, eben weil es so einen Perspektivwechsel erzeugt."
Die Wurzeln der Glitch Art gehen zurück bis zur Frühzeit der analogen Fotografie. Über einen Zeitraum von hundert Jahren nimmt sie ihren Weg von der Fotografie über den Avantgardefilm, Video- und Soundkunst bis hin zu den digitalen Bildmedien und der Netzkunst, indem Bild- und Tonstörungen bewusst provoziert oder gezielt programmiert werden. "Das Beste eigentlich, was dabei passiert, sobald man mit einer Bildstörung konfrontiert wird oder bei Videocalls: wir frieren ein irgendwie. Bei einem Fußballspiel live – plötzlich zuckt das Bild. Man will ja sehen, was da passiert. Also. wir hauen dann auf den Fernseher ein oder versuchen hektisch, die WLAN-Leitung irgendwie wieder zum Laufen zu bringen. Aus dieser sehr passiven Haltung treten wir heraus und werden total aktiv."
Die Schönheit der Störung
Die Münchner Pinakothek spürt auf 1.200 qm Ausstellungsfläche der "Kunst der Störung" als globalem Phänomen nach. Internationale Künstlerinnen und Künstler zeigen, wie "schön" Fehler sind und welches kreative Potenzial in ihnen steckt. Sie hinterfragen die Realitätsnähe der Medien, schaffen neue Welten, decken gesellschaftspolitische Widersprüche auf und machen Unsichtbares sichtbar. Mit dabei ist auch der Fotograf Kazuma Obara. Internationales Aufsehen erregte er mit seinem Fotoband über die Nuklearkatastrophe in Fukushima. "Der Fehler ist so wichtig in meinem Werk, weil meine Vorstellungskraft so begrenzt ist. Wie meine Informationen und mein Sinn für Empathie leider auch begrenzt sind", sagt er. "Ich muss meine begrenzte Vorstellungskraft überwinden. Da bringt ein Fehler zufällig andere Dinge hervor. Das ist ein sehr starker Teil der Kunst."
Glitch ist ein ästhetisches Prinzip – und gleichzeitig viel mehr. "Es werden Kriege geführt. Es werden Genderdebatten geführt. Es geht um dieses ganze Spektrum", sagt Franziska Kunze. "Und ich habe den Eindruck, dass die Künstler*innen, die sich jetzt verstärkt mit Bildstörungen auseinandersetzen, diese zum Teil ihrer Kunst machen, erkannt haben, dass sie damit Dinge an die Sichtbarkeit heben können, die so unter unserer sehr fragilen Gesellschaftsmembran schwelen und die man eigentlich gar nicht abbilden kann, wenn man die 'makellosen' Medien verwenden würde."
Buchtipp
Franziska Kunze: Glitch.
Die Kunst der Störung.
Distanz Verlag 2023, Preis: 42 Euro
Autor des TV-Beitrags: Peter Scharf
Die komplette Sendung steht am 03. Dezember ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.
Stand: 03.12.2023 18:11 Uhr
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