So., 03.12.23 | 23:05 Uhr
Das Erste
"Ohne Tauben können wir nicht leben"
Film-Doku "Kash Kash" über den Alltag in Beirut
Beirut ist die Heimatstadt der jungen Regisseurin Lea Najjar. Über die von Konflikten und Unruhen gezeichnete Metropole und ihre Bewohner hat sie ihren poetischen Debütfilm "Kash Kash" gedreht. Seine Weltpremiere feierte er 2022 auf dem Dokumentarfilmfestival in Kopenhagen und wurde unter anderem mit dem First Steps Award 2022, dem Goldenen Frosch bei dem polnischen Filmfestival Camerimage und dem Deutschen Dokumentarfilmpreis 2023 ausgezeichnet. Am 7. Dezember kommt er bundesweit in die Kinos. ttt hat mit der Regisseurin gesprochen.
Taubenroulette
"Kash Hamam" – so heißt ein uraltes Glücksspiel, mit dem sich die Einwohner Beiruts die Zeit vertreiben. Es wird von Generation zu Generation weitervererbt. Wer mitspielt, lässt seinen Taubenschwarm aus dem Käfig aufsteigen und über dem Dach seines Hauses fliegen. Die Vögel ziehen immer weitere Kreise und vermischen sich mit anderen Schwärmen. Die Spieler werfen Orangen in die Luft, um die Tiere zu erschrecken, und versuchen gleichzeitig, sie mit Schnalzen und Pfeifen zu lenken und anzulocken. Wenn eine fremde Taube zusammen mit den eigenen auf dem Dach landet, vergrößert sie als "Kash" den Schwarm. "Ein Kash ist, wenn du eine Taube gefangen hast", erläutert Lea Najjar. "Dann machst du die Federn weg. Also entweder mit einer Schere oder du rupfst sie ab, damit die Taube sich an dein Dach gewöhnt. Bis die Federn wieder nachgewachsen sind, hat die Taube sich an dein Dach gewöhnt und ist Teil deines eigenen Schwarms geworden."
Protestwelle 2019/2020
Lea Najjar erzählt aus der Perspektive dreier leidenschaftlicher Kash-Spieler und eines Mädchens, das davon träumt, eines Tages in der männerdominierten Kash-Welt einen eigenen Taubenschwarm zu haben. Auf eindrucksvolle Weise verknüpft sie ihre Geschichten mit den Umbrüchen der Stadt, die geprägt ist von korrupten Eliten, von Armut und politischem Protest. "Wir wollten keinen Film machen über die politische Lage im Libanon. Wir wollten wirklich ein Film machen rein über das Tauben-Gambling-Spiel, Kash Hamam", sagt Lea Najjar. "Und ein paar Tage, nachdem wir die Dreharbeiten begonnen hatten, hat die Revolution in Beirut begonnen. Im ganzen Land sind Leute auf die Straße gegangen und haben gefordert, dass die korrupte Regierung zurücktritt." Auch die Kash-Hamam-Spieler waren bei den Protesten dabei und ließen Friedenstauben steigen.
Sehnsucht nach Freiheit
Doch friedlich blieben die im Oktober 2019 begonnenen Proteste nicht. Über Wochen kam es immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen. Am 4. August 2020 dann die Katastrophe, als 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut explodierten. 200 Menschen verloren ihr Leben, rund 6.000 wurden verletzt. Die Explosion zerstörte den Hafen und beschädigte selbst weit entfernte Gebäude. Mehr als 300.000 Menschen wurden obdachlos. Kurz danach trat die libanesische Regierung zurück. Doch geändert hat sich nicht viel. "Wir dachten, wir können keinen Film machen über Tauben, wenn sozusagen das Herz der Stadt in Trümmern liegt", sagt Lea Najjar. "Aber dann war es eben auch so, dass einer unserer Protagonisten, Radwan, wenige Wochen später, obwohl seine ganze Wohnung zertrümmert war, wieder auf sein Dach gestiegen ist und weitergespielt hat. Das hat uns inspiriert. Wenn er das macht, dann müssen wir auch weiter filmen. "
"Kash Kash" ist das lebendige Porträt einer krisengeschüttelten Stadt. Doch wenn die Tauben sich in den Himmel erheben, wenn sie mit Leichtigkeit und Eleganz an den Trümmern im Hafen vorüberziehen, stehen sie auch für die Sehnsucht nach Frieden und Freiheit und für die Widerstandskraft der Beiruter Bevölkerung.
Autor des TV-Beitrags: Max Burk
Die komplette Sendung steht am 3. Dezember ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.
Stand: 03.12.2023 18:09 Uhr
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