So., 09.07.23 | 23:05 Uhr
Einwanderungsland Deutschland
Naika Foroutan über die postmigrantische Gesellschaft
Sie ist eine der bekanntesten Migrationsforscherinnen in Deutschland: die Soziologin Naika Foroutan, Direktorin des Instituts für Integrations- und Migrationsforschung an der Berliner Humboldt-Universität. In Boppard als Tochter einer deutschen Mutter und eines iranischen Vaters geboren, hat sie die ersten elf Jahre ihres Lebens in Teheran verbracht. 1983 verließ sie mit ihrer Familie den Iran und kam nach Deutschland zurück. Vor Kurzem ist ihr Buch "Es wäre einmal deutsch. Über die postmigrantische Gesellschaft" im Ch. Links Verlag erschienen. ttt hat Naika Foroutan in Washington getroffen, wo sie zurzeit forscht.
"Wer ist heute wir?"
Auch wenn über den Begriff lange gestritten wurde: Deutschland ist längst zu einem Einwanderungsland geworden, zu einem "Land mit Migrationshintergrund", wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Rede anlässlich des 60. Jahrestages des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens gesagt hat.
Seit die ersten "Gastarbeiter" Ende der 1950er Jahre kamen, hat sich viel verändert. Heute haben knapp 30 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen eine Migrationsbiografie, das heißt sie oder mindestens ein Elternteil wurden nicht mit der deutschen Staatsangehörigkeit geboren. "Wenn wir nur reinzoomen in die Kinder, dann sind es schon fast 40 Prozent", sagt Naika Foroutan. Das hat das Selbstverständnis der Gesellschaft von Grund auf verändert. Wie – darüber hat Naika Foroutan nicht nur geforscht, sondern auch immer wieder Essays geschrieben, in denen sie ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse mit Alltagsbeobachtungen verknüpft. Ihr neues Buch "Es wäre einmal deutsch" ist eine Sammlung dieser Aufsätze, in denen es um die Frage geht: "Wer ist eigentlich heute wir, wenn wir von Deutschland sprechen?" Ausgangspunkt ist das Jahr 2010, als Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" für Diskussionsstoff sorgte. Während sich die Gesellschaft über Jahre an dieser Debatte abarbeitete, erschütterten brutale Übergriffe auf Migranten das Land.
Die postmigrantische Gesellschaft
Für Naika Foroutan ist klar: Postmigrantisch bedeutet nicht, dass die Migration an ein Ende gekommen sei. Es bedeutet vielmehr, dass der in Gang gesetzte Prozess unumkehrbar ist. Nun geht es nicht mehr darum, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, sondern wie wir unsere gemeinsame Zukunft gestalten. Mittlerweile ist unübersehbar geworden, dass wir eine Gesellschaft sind, zu denen so erfolgreiche Menschen wie die Biontech-Gründer Uğur Şahin und Özlem Türeci oder der Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir gehören. "Auf einmal hat man es mit einer ganzen Masse an Menschen zu tun, die die Integrationsindikatoren nicht nur abgearbeitet haben, sondern diese teilweise sogar überperformt haben." Und doch ist damit die Diskussion über die Zuwanderung nicht gestoppt. Ganz im Gegenteil, meint Naika Foroutan. "Sie verschärft sich vielmehr."
Befeuert wird sie durch die Erfolge der AfD, die trotz des enormen Fachkräftemangels den Kampf gegen die Einwanderung ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hat. "Es ist nicht so, dass die ganze Welt nur davon träumt, nach Deutschland zu kommen. Im Gegenteil. Wenn die AfD so weiter macht, müssen wir gucken, dass wir überhaupt noch Leute hier hinkriegen. Wenn diese Migrationsaversion weitergeht, schafft sich Deutschland innerhalb des nächsten Jahrzehnts in seinen Strukturen ab."
Buchtipps
Naika Foroutan: Es wäre einmal deutsch.
Über die postmigrantische Gesellschaft
Ch. Links Verlag 2023, Preis: 20 Euro
Autor des TV-Beitrags: Max Burk
Die komplette Sendung steht am 09. Juli ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.
Stand: 10.07.2023 07:58 Uhr
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