So., 12.11.23 | 23:50 Uhr
Das Erste
Schluss mit dem selektiven Humanismus!
Shahak Shapira und Issa Khatib über Empathie in Zeiten des Terrors
"Du willst Plakate abreißen? Los geht's. Stoppt den selektiven Humanismus. Steht an der Seite der Menschen." So hat es Shahak Shapira auf X gepostet und damit eine Aktion angekündigt, die eine Gratwanderung ist. Ausgangspunkt ist eine Kampagne zweier israelischer Künstler, die Fotos der von der Hamas entführten Geiseln auf Poster druckten und in den Straßen von New York veröffentlichten. Die Aktion ging um die Welt. Auch in deutschen Großstädten wurden die Plakate aufgehängt und brutal abgerissen.
Shahak Shapira will daran anknüpfen, den Spieß umdrehen und das empathielose Abreißen thematisieren. Seine Idee: Er plakatiert Fotos von israelischen und palästinensischen Opfern und ruft Passanten dazu auf, herauszufinden, woher die Opfer stammen. Jeweils zwei DIN-A4-Seiten zeigen nebeneinander dasselbe Foto. Über dem einen steht "Killed in Gaza?", über dem anderen "Killed in Israel?" Die Antwort findet sich darunter – auf einem DIN-A3-Plakat mit der Aufschrift "We look the same. We bleed the same. We deserve better." "Ich will, dass die Leute es abreißen und darunter das DIN-A3-Plakat entdecken." Die Aktion ist sein Weg, gegen das anzukämpfen, was er selektiven Humanismus nennt: "Selektiver Humanismus, das ist einfach, wenn du Empathie gibst, aber nur für eine Seite, meistens für deine Seite quasi. Und dann hast du gar keine Empathie für die anderen und du verhältst dich defensiv, wenn ihnen Empathie gezeigt werden soll."
Schonungslose Satire
Der Berliner Comedian mit israelischen Wurzeln ist bekannt dafür, mit schonungsloser Satire Themen aufzugreifen, die besonders polarisieren. 2017 löste er mit seiner Aktion "Yolocaust" eine Debatte über die deutsche Erinnerungskultur aus. Judenverfolgung und Nahostkonflikt – für Shahak Shapira sind sie Teil der Familiengeschichte. Als Enkel eines Holocaust-Überlebenden wuchs er in einer israelischen Siedlung im Westjordanland auf. Sein anderer Großvater wurde bei den Olympischen Spielen in München 1972 von palästinensischen Terroristen ermordet. Drei Tage nach dem 7. Oktober hat er den barbarischen Überfall der Hamas und die Reaktionen darauf in einer "Special Show" mit dem Titel "Baklavas From Gaza – Comic Relief for Israel & Palestine" thematisiert. Schwarzer Humor in Zeiten des Terrors? Für Shapira kein Widerspruch.
Plädoyer für Empathie
"Baklavas From Gaza" fand in der Karakas-Bar in Berlin statt, einer coolen Kellerbar mit Comedy-Programm, die der Palästinenser Issa Khatib gemeinsam mit einem multinationalen Team führt. Issa Khatib und Shahak Shapira sind befreundet – und sie teilen beide die Überzeugung, dass es zutiefst unmenschlich ist, nur das Leiden und die Opfer der einen Seite zu sehen. "Wenn ich das Bild von einem getöteten Kind sehe, ob ich gleich weine? Ja, ich weine für beide gleich", sagt Issa Khatib. "Ich muss nicht irgendwie erst mal wissen, ob diese Person Israeli oder Palästinenser ist, um zu weinen, weil sie tot ist."
Die beiden debattieren seit langem über den Nahostkonflikt. "Für Menschen wie Issa und mich hat's ja nicht erst am 7. Oktober angefangen." Sie sind sich keineswegs immer einig, diskutieren darüber, ob Pro-Palästina-Demonstrationen antisemitisch sind oder nicht. Aber wenn es so etwas wie respektvolle Streitkultur gibt, dann stehen Issa und Shahak dafür. Sie wissen und spüren, dass sie Empathie für die jeweils andere Seiten haben – auch wenn im öffentlichen Diskurs gerade die Feindschaft zu dominieren droht. "Wir betrachten uns einfach als Menschen", sagt Shahak Shapira. "Stand with Humans. Steht an der Seite der Menschen" – so lautet ja auch das Motto seiner Plakataktion.
Autorin des TV-Beitrags: Claudia Kuhland
Die komplette Sendung steht am 12. November ab 20 Uhr zum Abruf in der Mediathek bereit.
Stand: 12.11.2023 17:48 Uhr
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