So., 27.01.19 | 23:05 Uhr
Das Erste
Was ist eigentlich in Frankreich los? Die "Gelbwesten" und die unfassbare Wut im Land
Wie kann es sein, dass sich in Frankreich, einem Kernland Europas, seit Monaten jedes Wochenende Zehntausende Menschen Straßenschlachten mit der Polizei liefern? Es sind die einfachen Leute aus der Provinz, die ihre Wut über Sozialabbau und Missachtung durch die Politik herausschreien. Die "gilets jaunes", die "Gelbwesten", tragen die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich auf die Straße. Und führende Schriftsteller solidarisieren sich mit ihnen.
Édouard Louis, Schriftsteller: "Als ich die Gelbwesten-Bewegung zum ersten Mal sah, erkannte ich sofort die Gesichter, die Körper, die Menschen wieder, die ich aus meiner Heimat kenne. Leute, die sagen: Ich kann meine Miete nicht mehr bezahlen. Ich kann mir nicht mehr jeden Tag was zu essen leisten. Nach zwanzig Tagen habe ich für den Rest des Monats nichts mehr zu essen. Leute, die sagen, ich kann meinen Kindern nichts zu Weihnachten schenken."
Édouard Louis – Shootingstar der jungen französischen Literatur
Édouard Louis stammt aus einem heruntergekommenen Dorf in Nordfrankreich, wo er als schwuler Junge unter seinem Vater litt, der seinen femininen, unmännlichen Sohn hasste. Doch heute ist sein Vater schwer krank. Und in seinem neuen Buch "Wer hat meinen Vater umgebracht" (S. Fischer Verlag) klagt Louis die Regierung an, mit dem Sozialabbau der letzten Jahre Menschen wie seinen Vater zu zerstören.
Édouard Louis, Schriftsteller: "Mein Vater ist gerade 50 Jahre alt. Er hatte einen Arbeitsunfall, kann nicht mehr richtig laufen, nicht richtig atmen. Er braucht eine Maschine, damit sein Herz richtig schlägt. Aber der französische Staat zwang ihn, wieder arbeiten zu gehen. Sonst hätte man ihm die Unterstützung gestrichen. Man stellte ihn also vor die Alternative: Wenn Sie nicht arbeiten gehen, sterben Sie, weil Sie nicht genug Geld zum Überleben haben. Oder Sie arbeiten wieder, aber Sie sind so krank, dass Sie ebenfalls sterben."
Die Elite der französischen Gesellschaft wurde völlig überrascht von der Revolte der Gelbwesten. Präsident Macron machte die Menschen selbst verantwortlich für Armut und Arbeitslosigkeit, sprach von "Faulpelzen". Mittlerweile sucht er den Dialog, doch zwischen den Eliten in Paris und der Lebensrealität in der Provinz liegen Welten.
Dazu Édouard Louis, Schriftsteller: "Das war schon bei der Französischen Revolution so: Was die Leute umtreibt, sind die ökonomischen Probleme", sagt der Schriftsteller Éric Vuillard. "Wenn man nicht genug Geld für Essen oder für die Wohnung hat, wenn man seinen Kindern kein besseres Leben ermöglichen kann – das ist der Ausgangspunkt für eine Revolte."
Aufstand der Menschen, die nichts zu verlieren haben
Éric Vuillard hat gerade den Roman "14. Juli" (Verlag Matthes & Seitz Berlin) über die Französische Revolution geschrieben, bei dem man sich dauernd an die Gegenwart erinnert fühlt. Der Sturm auf die Bastille ist bei Vuillard ein Aufstand von Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Bei allen Unterschieden – ist das, was wir gerade erleben, möglicherweise eine zweite Französische Revolution?
Dazu Éric Vuillard, Schriftsteller: "Naja, die Gelbwesten sind wie die Französische Revolution eine sehr heterogene Bewegung. Damals waren Arbeiter dabei, Handwerker, Kaufleute, Zehntausende, die die Bastille gestürmt haben. Heute ist es ebenfalls eine Bewegung unterschiedlichster Menschen, die ein gemeinsames Ziel vereinigt: mehr Gleichheit."
Extreme Parteien versuchen die Bewegung zu vereinnahmen
Die Bewegung der Gelbwesten begann mit Protesten gegen eine Erhöhung der Benzinsteuer. In der Provinz wählen viele den rechtsradikalen Front National. Und tatsächlich versuchten extreme Parteien von rechts, aber auch von links, die Bewegung für sich zu vereinnahmen. Bisher hat die sich erfolgreich dagegen gewehrt. Trotzdem werfen ihr viele vor, mit ihrem Bürgerzorn die Sache der Rechten zu vertreten.
"Die Frage ist nicht: Gibt es in dieser Bewegung Rassismus und Homophobie? Selbstverständlich gibt es das bei den Gelbwesten", sagt Édouard Louis. "Wie überall sonst auch. Aber warum spricht man nur darüber, wenn es um die Arbeiterklasse geht? Man will die Leute zum Schweigen bringen. Man will über die eigentlich wichtige Frage nicht sprechen, nämlich was Menschen dazu bringt, rassistisch und homophob zu sein?"
Eine neue Literatur der Arbeiterklasse
Die Menschen in den heruntergekommenen Dörfern und Kleinstädten, ihre Geschichten, ihre Probleme und Konflikte, kommen im herrschenden Diskurs nicht vor. Sie sind unsichtbar. Édouard Louis will das ändern. Er will mit seinen Büchern eine neue Literatur der Arbeiterklasse schaffen. "Das ist die Welt, aus der ich komme, in der ich meine Kindheit verbracht habe. Und ich versuche, den Gesichtern, den Körpern dieser Menschen in meiner Literatur einen Platz zu geben."
Die Spaltung der Gesellschaft wird sichtbar
Es ist noch völlig unklar, wie der Konflikt mit den Gelbwesten ausgehen wird. Und doch haben sie schon etwas Grundlegendes geschafft: sichtbar zu werden, der Spaltung der Gesellschaft ein Gesicht zu geben. Auch mit Hilfe der Schriftsteller, die bewusstmachen, worum es hier eigentlich geht: um nicht weniger als das Überleben einer ganzen gesellschaftlichen Klasse.
Autor: Joachim Gaertner
Stand: 28.01.2019 11:19 Uhr
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