Sa., 29.05.21 | 16:00 Uhr
Das Erste
Die Vermessung des Radfahrens
Den Radverkehr stärker zu fördern ist gerade jetzt besonders angesagt, denn der Fahrrad-Boom hat durch die Corona-Krise weiteren Auftrieb bekommen und viele Menschen sind bereits umgestiegen. Doch trotzdem trauen sich viele Menschen noch nicht, aufs Rad umzusteigen. Sie haben Angst oder fühlen sich einfach nicht richtig wohl. Warum ist das so und wie lässt sich das ändern?
Das Experiment: Vermessung des Radfahrens
Wir wollen herausfinden: Wie muss Fahrradfahren im Alltag sein, damit möglichst viele sich sicher fühlen und Spaß am Radeln haben? Zwei Testpersonen fahren dazu für uns ihre alltäglichen Wege – mit einem ganz besonderen Fahrrad und mit wissenschaftlicher Begleitung durch den Verkehrsökologen Prof. Jochen Eckart von der Hochschule Karlsruhe. Das Rad steckt voller Technik: Zwei Kameras zeichnen den Verkehr auf. Ein Abstandsmesser ermittelt, wie nah die Autos den Radfahrenden kommen. Eine Tretkurbel bestimmt den Kraftaufwand, mit dem die beiden in die Pedale treten müssen, ein GPS-Tracker erfasst, wo sie wie schnell fahren. Prof. Jochen Eckart verfolgt damit einen ganz neuen Ansatz. Er will das Radfahren aus der Perspektive der Radfahrenden ermitteln und dadurch herausfinden, wie mehr Menschen zum Umstieg auf das Fahrrad bewegt werden können.
Unsere Testfahrerinnen stammen aus Bad Hersfeld und Baunatal, zwei Kleinstädten mit etwa 30.000 Einwohnern. Baunatal hat bei einer Umfrage des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs, dem Fahrradklimatest, gut abgeschnitten. Bad Hersfeld schlecht. Unsere Bad Hersfelder Testfahrerin Anna Kleine ist trotzdem eine leidenschaftliche Radfahrerin. Sie fährt mit dem Rad zur Arbeit, zum Sport und auch in ihrer Freizeit viel Fahrrad. Sie bezeichnet sich selbst als "unerschrocken". Und trotzdem fühlt sie sich im Straßenverkehr unsicher und erlebt das Radfahren als gefährlich.
Unterwegs in Bad Hersfeld
Wir begleiten zuerst Anna auf einem ihrer alltäglichen Wege. Dazu muss sie den Stadtring um die Innenstadt von Bad Hersfeld benutzen. Denn die Innenstadt ist Fußgängerzone. Doch es gibt einen durchgehenden Fahrradweg. Also alles prima – oder?
An der ersten Kreuzung steht ein Auto mitten auf dem Radweg. Anna muss abbremsen, das Auto umfahren, neu antreten. Das passiert häufig, da die Kreuzung unübersichtlich ist. Die Autos müssen weit vorfahren, um gute Sicht zu haben und behindern somit die Radfahrenden. Ein paar Meter weiter ist eine Mutter mit ihren Kindern auf dem Fußgängerweg unterwegs. Da dieser Weg aber so schmal ist - Radfahrende und Fußgänger haben zusammen nur circa zwei Meter Platz - müssen sich Anna und die Fußgänger einigen. Also wieder abbremsen.
Und während die Autofahrenden an der nächsten Kreuzung auf ihrer Spur geradeaus durchfahren können, führt Annas Radweg zur Fußgängerampel. Dort muss sie eine ganze Minute warten, fährt ein paar Meter und muss an der nächsten Ampel wieder warten. Der erste Eindruck: Viele Situationen sind unübersichtlich, alles ist eng und wirkt stressig.
Unterwegs in Baunatal
Am nächsten Tag sind wir in Baunatal unterwegs. Unsere Testfahrerin ist Kira Werner. Auch sie fährt sehr gerne Fahrrad, gehört aber eher zu den "normalen" Radlern, die nur fahren, wenn es angenehm ist. Auch in Baunatal ist die Innenstadt Fußgängerzone, auch hier muss sie umfahren werden, auch hier gibt es einen Radweg.
Kira ist zur gleichen Uhrzeit unterwegs wie Anna in Bad Hersfeld und soll wie sie nervige oder gefährliche Situationen kommentieren. Doch wir warten vergeblich. Kira radelt gemütlich und entspannt. Fußgänger und Radfahrende haben zusammen fünf Meter Platz. Denn die Stadt hat eine Autospur weggenommen, sie zum Fuß- und Radweg gemacht. Noch vor einigen Jahren war hier die Situation ähnlich wie in Bad Hersfeld. Für Autofahrer gab es zwei Fahrspuren, für Fußgänger und Radfahrer war wenig Platz. Doch dann entschloss sich Baunatal, fahrradfreundlich zu werden.
Wo fährt es sich besser?
Aber zeigt sich das auch in den Messungen? Vier Tage später hat Prof. Jochen Eckart die Daten ausgewertet.
Strecke, Dauer und Kraftaufwand unserer beiden Testfahrerinnen sind sehr ähnlich. Es gibt aber deutliche Unterschiede bei der Auswertung, wie häufig unsere Testfahrerinnen anhalten müssen. Bei einer Strecke von knapp drei Kilometern muss Anna in Bad Hersfeld zwölf Mal stoppen, nicht mitgerechnet sind Abbremsmanöver bei unübersichtlichen Situationen. Kira in Baunatal muss nur vier Mal anhalten. Und Anna wird circa doppelt so häufig wie Kira überholt.
Zudem ist der Abstand beim Überholen sehr unterschiedlich. Kira wird zum Teil im Abstand von mehreren Metern überholt, bei Anna beträgt der Abstand häufig nur einen Meter oder sogar weniger. Im Fall von Bad Hersfeld ist der Fahrradweg für ein angenehmes und sicheres Gefühl beim Radfahren viel zu schmal und verläuft zudem direkt neben der Straße. Zudem ist die Führung des Radweges umständlich und unübersichtlich. Ständige Abbremsmanöver und Stopps machen Radfahren anstrengend.
Prof. Jochen Eckart hat in früheren Studien ermittelt, welche Ereignisse von Radfahrenden besonders negativ bewertet werden. Und die Bedingungen in Bad Hersfeld bilden das ab: Häufiges Anhalten wird als unkomfortabel empfunden. Überholen, vor allem dichtes Überholen, beeinträchtigt das Sicherheitsgefühl. Das schreckt ab, sagt der Forscher. Und das spiegelt sich auch in den Zahlen wieder, wie viele Menschen in den jeweiligen Städten oder Gemeinden Rad fahren. Dort wo die Radfahrenden ihrer Stadt beim Fahrradklimatest gute Noten gegeben haben, fahren auch mehr Menschen Rad als in den schlecht bewerteten Städten.
Das Resümee seiner Forschungen: Sollen mehr Menschen Radfahren, brauchen sie Platz und Radwege, die unabhängig vom Autoverkehr möglichst freie Fahrt erlauben.
Von der Autostadt zur Fahrradstadt?
Immer mehr Städte und Gemeinde handeln nun auch danach, zum Beispiel Frankfurt am Main. Es entstehen mehr - und besonders wichtig - breite Radfahrstreifen oder Radwege und mehr Abstellmöglichkeiten, häufig dort, wo vorher Autos parkten oder fuhren.
Freie Fahrt für Fahrräder statt für Autos? Da stellt sich die Frage, ob sich das in einer Stadt einfach so umsetzen lässt. Der Mobilitätsforscher Prof. Martin Lanzendorf untersucht die Konflikte, die dabei entstehen. Er forscht an der Goethe-Universität Frankfurt und fordert dazu auf, alte Gewohnheiten zu hinterfragen. So halten es viele Menschen für selbstverständlich, dass sie öffentliche Flächen zu ihrer privaten Verfügung haben, um darauf ihre Autos zu parken. Wird das geändert, so gibt es immer wieder Konflikte. Allerdings hat er bei seinen Untersuchungen festgestellt, dass die Menschen bereit sind, auf solche Privilegien zu verzichten, wenn ihnen dafür Alternativen angeboten werden; zum Beispiel Sitzgelegenheiten, Grünflächen, Spielplätze oder auch Fahrradwege.
Zusätzlich haben er und sein Team untersucht, wie neue Radwege bei den Anwohnenden ankommen. So hat die Nord-Süd-Verbindungsachse der Stadt, die Friedberger Landstraße, im Innenstadtbereich ihr Gesicht stark verändert. Bis vor kurzem hatten Autos pro Richtung zwei Fahrspuren. Jetzt gehört je eine den Radfahrenden. Eine Umfrage bei den Anwohnenden ergab, dass sie es sehr positiv finden, dass durch diese Umgestaltung der Verkehrslärm nachgelassen hat und vor allem, dass sich die Sicherheit für Kinder deutlich erhöht hat.
Fahrradfreundliche Städte sind im Kommen. Doch dazu benötigen sie eine fahrradgerechte Infrastruktur. Viele Städte und Gemeinden haben sich auf den Weg gemacht – doch noch ist viel zu tun.
Autorin: Anja Galonska (HR)
Stand: 27.05.2021 14:35 Uhr