Sa., 06.03.21 | 16:00 Uhr
Das Erste
Atomausstieg – Was gewinnen, was verlieren wir?
2011 beschließt der Bundestag mit 513 zu 79 Stimmen den vorzeitigen Ausstieg aus der Atomenergie, nachdem wenige Jahre zuvor noch eine Laufzeitverlängerung der deutschen AKW beschlossen wurde. Bis Ende 2022 sollen alle AKWs vom Netz gehen. Das Datum soll gleichzeitig den Startpunkt für die Energiewende markieren, denn die wegfallende Atomenergie soll durch erneuerbare Energiequellen ersetzt werden. Begleitet wird der Ausstieg von Diskussionen über seinen Sinn sowie über seine Vor- und Nachteile. Denn Deutschland wagt damit einen Schritt, den so noch kein anderes Industrieland beschlossen hat. Damit stellt sich ein Jahr bevor der letzte deutsche Reaktor vom Netz geht die Frage: Was gewinnen wir, was verlieren wir?
Bringt uns der Ausstieg mehr Sicherheit?
Größter Antrieb für den Ausstieg sind in erster Linie Sicherheitsüberlegungen, denn der Schock, ausgelöst durch die Reaktorkatastrophe 2011 in Fukushima, sitzt tief. Zweifellos gewinnen wir durch die Abschaltung der deutschen Atomreaktoren Gebiet an Sicherheit, denn jeder Reaktor, der nicht mehr läuft, minimiert das Restrisiko eines Massiven Störfalls. Gleichzeitig verringern sich die Risiken, die durch den Tarnsport und die Lagerung von Atommüll entstehen: Die Bestände wachsen nicht mehr weiter an. Was bleibt: Das Risiko für einen Störfall in einem der zahlreichen Atomreaktoren der angrenzenden Nachbarländer, teilweise in unmittelbarer Nähe zur Grenze. Doch auch in vielen europäischen Nachbarn stehen die Zeichen auf Atomausstieg und die Laufzeiten vieler Reaktoren kurz vor ihrem Ende. Auch das ist ein Sicherheitsgewinn für Deutschland.
Der Trend geht weg von der Atomenergie, nicht nur in Deutschland. In ganz Europa nimmt der Anteil von Atomstrom über die letzten Jahre kontinuierlich ab. Da lediglich 13 von 27 EU-Staaten Atomkraftwerke betreiben, kann man auch nicht von einer Isolation Deutschlands sprechen. Fast alle Staaten, auch die Atommacht Frankreich, wollen ihren Anteil an Atomenergie senken und den Ertrag der erneuerbaren Energien steigern.
Die Geschichte vom klimafreundlichen Atomstrom
Atomenergie gilt als CO2-arme Energiequelle, vor allem im Vergleich zu fossilen Energieträgern. Im Zuge der Energiewende stellt sich damit die Frage, ob es sinnvoll ist, die Atomenergie aufzugeben, wenn insgesamt eine Reduktion des CO2-Ausstoßes bei der Stromerzeugung angestrebt wird. Bei genauerer Betrachtung löst sich dieser Widerspruch auf. Denn unter Einbeziehung des kompletten Erzeugungs- und Entsorgungsprozesses, der bei der Herstellung von Atomstrom anfällt, ist die CO2-Bilanz der Atomenergie deutlich schlechter als die der erneuerbaren Energien. Geht der Plan der Energiewende also auf, nimmt der Anteil an CO2-armem Strom in Deutschland nach dem Ausstieg mittelfristig zu.
Kritiker des Ausstiegs sehen Deutschland durch den Abschied von der Kernenergie international zunehmend isoliert und technologisch abgehängt. Ihre Sorge: Erforschung und Weiterentwicklung der Kernenergie laufen an Deutschland vorbei. Oft wird dabei auf die Reaktorkonzepte der sogenannten Vierten Generation verwiesen. Bei diesen Reaktortypen handelt es sich allerdings um Konzepte, die bereits seit Jahrzehnten bekannt sind. Bisher ist es jedoch noch nicht gelungen, daraus sichere und funktionierende Atomreaktoren entwickeln. Ob dies in Zukunft der Fall sein könnte, ist trotz des betriebenen Aufwandes völlig offen.
Zur Bekämpfung des Klimawandels wird die Kernenergie nach heutigem Stand einen eher geringen Beitrag leisten können. Dazu sind die Planungs- und Bauzeiträume für die aktuellen Reaktortypen schlicht zu lang. Bis ein geplantes Atomkraftwerk Strom liefert, vergehen bis zu 20 Jahre. Um das Klimaproblem zu lösen sind diese Prozesse viel zu langsam. Im Moment macht der Atomstrom in Deutschland noch knapp zehn Prozent aus. In Zukunft können das die Erneuerbaren problemlos kompensieren. Zukunftsmärkte sind deshalb vor allem Speichertechnologien und Grüner Wasserstoff, nicht aber die Atomenergie.
Atomstrom wird unrentabel
Durch den Ausstiegsbeschluss 2011 kam es in Deutschland und Europa zu einem starken Anstieg der Investitionen und der Forschung im Bereich der Solar- und Windenergie. In Kombination mit der Liberalisierung des Strommarktes verwandelt sich das deutsche Energie-Oligopol früherer Tage in ein klassisches Polypol. Durch die Förderung erneuerbarer Energien stiegen viele Anbieter in den Markt ein. Sie können flexibel, nach den kurzfristigen Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage, Strom aus Erneuerbaren anbieten.
Für die aktuellen AKWs eine ungünstige Marktlage, denn sie sind in ihrer Stromproduktion alles andere als flexibel. Sie müssen ihren Strom also immer am Markt anbieten. Bei einem Überangebot führt das jedoch zu negativen Strompreisen für Atomstrom. Aufgrund der Kostenstruktur der erneuerbaren Energien wird sich dieser Effekt künftig weiter verstärken, Atomstrom wird immer unrentabler. Selbst ein längerer Betrieb der noch am Netz befindlichen Reaktoren in Deutschland, also die Verschiebung des Ausstiegs, wäre aus wirtschaftlicher Sicht für die Betreiber eher nicht sinnvoll.
Unterm Strich gibt es viele gute Gründe, die nach wie vor für den Ausstieg aus der Atomenergie sprechen. Unter Berücksichtigung aller Faktoren gibt es bei einem klugen und international abgestimmten Vorgehen deutlich mehr zu gewinnen, als zu verlieren.
Autor: Niels Waibel (SWR)
Stand: 04.03.2021 19:46 Uhr