Sa., 18.07.20 | 16:00 Uhr
Das Erste
Lausitz: Die Wildnis kehrt zurück!
Über mehr als 150 Jahre hat der Braunkohleabbau die Lausitz auf einer Fläche von fast 900 Quadratkilometern geprägt. Das Gebiet ist etwa so groß wie Berlin. Auf ihrer Suche nach dem "schwarzen Gold" haben Abraumbagger die Böden bis in eine Tiefe von 120 Metern umgegraben und die Landschaft auf den Kopf gestellt. Nach und nach haben die meisten Tagebaue – bis auf die letzten vier – ihren Betrieb eingestellt. Sie haben damit ein wüstenhaftes, vegetationsarmes Terrain hinterlassen. Denn die sandigen Böden aus der Tiefe sind sauer und bieten nur wenig Nährstoffe. Umso erstaunlicher ist es, wenn sich auf diesen kargen Flächen neues Leben zeigt: Mit Silbergras, Moosen, Flechten und sogar Birken haben erste Pionierpflanzen Fuß gefasst. Und manche der Pflanzen locken mit ihren Blüten erste Insekten – Nahrungsgrundlage für viele Vögel.
Einer von ihnen ist der in Deutschland selten gewordene Brachpieper. Er und andere Vögel haben die bizarren Sandflächen und -hügel, Überbleibsel des Tagebaus zu ihrer neuen Heimat gemacht. Während andernorts – zum Beispiel am Rhein – sandige Steilufer an den Flüssen längst zerstört wurden, finden auch Uferschwalben in der Bergbaufolgelandschaft wieder Brutplätze. In kleinen Bruthöhlen mitten in den Sandhügeln können sie sich erfolgreich fortpflanzen.
Experiment Wildnis
Schon 1991 haben Naturschützer der Heinz-Sielmann-Stiftung das ökologische Potenzial der Landschaften nach dem Bergbau erkannt. 3.300 Hektar der ausgedienten Tagebaue wurden von ihnen gekauft, um sie für Pflanzen und Tiere zu sichern. Als Leiter von "Sielmanns Naturlandschaft Wanninchen" wagt der Ökologieexperte Ralf Donat das Experiment Wildnis: Auf dem größten Teil der Flächen sollen sich Tiere und Pflanzen – ohne jede Störung durch den Menschen – frei entwickeln. Eine seltene Chance für Forscher und Naturbegeisterte, eine Vielzahl unterschiedlicher Insekten, Vögel und Säugetiere zu beobachten. Und mitzuerleben, wie sie die geschundene Landschaft allmählich zurückerobern: Neben Graukranichen, die im Frühjahr zu Hunderten einfliegen, um sich in der Lausitz zu paaren, durchkämmen seit rund 20 Jahren Wölfe das Gebiet - gelockt von Rehen, Hirschen und Wildschweinen.
Mit den Beutegreifern hat sich ein Lebenskreislauf eingestellt, in dem auch der große Seeadler seinen festen Platz gefunden hat. Es ist erstaunlich, wie schnell die Natur in der geschundenen Bergbaulandschaft das Regiment übernimmt. Viele Pflanzen- und Tierarten profitieren von der Entwicklung - und voneinander. Doch das gilt nicht für alle Arten – und leider vor allem nicht für solche, die sich exklusiv auf kargen Sandflächen angesiedelt haben.
Wildnis und Artenvielfalt – ein Widerspruch?
Mit Stürmen werden Nährstoffpartikel aus der Landwirtschaft und aus Wäldern über die kargen, sandigen Flächen des ehemaligen Braunkohlereviers Lausitz verteilt. Aber auch Vögel verbreiten Pflanzensamen, sodass sich nach den spärlichen Pionierpflanzen bald auch Allerweltsgräser und -sträucher ausbreiten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis in der Einöde Bäume wachsen und sich Wald breit macht – und manch gerade erst angesiedelte Art wieder verdrängt: Seltene Steppenbewohner wie die Zauneidechse, die Wechselkröte und Vogelarten wie Steinschmätzer, Brachpieper oder Neuntöter, werden durch die unkontrollierte Ausbreitung von Büschen und Sträuchern wieder verdrängt.
Um besser verstehen zu können, welche Vögel, Reptilien, Amphibien und Säugetiere sich in welcher Landschaftsformen am besten behaupten können, werden ihre Bestände in den Naturschutzgebieten regelmäßig erfasst. Zum Beispiel von Landschaftsplaner Alexander Harter, Geschäftsführer des Naturschutzgroßprojekts Lausitzer Seenland. Er verwaltet eine Fläche von rund 1.000 Hektar, bestehend aus Fichtenwäldern, Heide, Agrarland und verwilderten Arealen. Der studierte Landschaftsplaner hat die Aufgabe, die Lebensräume bedrohter Tiere, insbesondere seltener Vogelarten, zu schützen und die Verwilderung zumindest an manchen Stellen stoppen. Ein Beispiel dafür sind offene Heideflächen, auf die viele Insekten und der vom Aussterben bedrohte Ziegenmelker angewiesen sind, weil er am Boden brütet.
Bergbaufolgelandschaft – eine Chance für mehr Natur
Um das Biotop der offenen Heideflächen zu bewahren, muss Alexander Harter als Artenschützer regelmäßig eingreifen. Dazu gehört auch, Bäume zu fällen, die den offenen Charakter der Landschaft stören. Nicht immer bedeutet also absolute Wildnis auch absolute Artenvielfalt – und Eingreifen scheint doch eher das Mittel der Wahl, als der Natur ihren Lauf lassen. Was richtig ist oder ob beides notwendig ist, wird die Zukunft zeigen. In jedem Fall bietet der Rückzug der Braunkohleindustrie in der Lausitz der Natur neue überraschende Chancen und Möglichkeiten: Aufgrund der Größe freigewordener Flächen, können Natur- und Artenschützer ein Nebeneinander aus Wildnisgebieten und gepflegten Biotopen zulassen.
Das bietet wiederum Möglichkeiten für einen sanften Tourismus: Naturfreunde, von denen es immer mehr in den Osten Deutschlands zieht, wissen: So viele seltene Vogelarten und Wölfe können sie nur in dieser einzigartigen Landschaft entdecken. Sicher ist eines: In der neuen Landschaft nach dem Bergbau ist jedes Experiment eine Chance für mehr Natur.
Autor: Michael R. Gärtner (WDR)
Stand: 18.07.2020 16:58 Uhr