Sa., 07.11.20 | 16:00 Uhr
Das Erste
Turbo-Evolution: Wie der Mensch die Entwicklung der Maus vorantreibt
Die Geschichte der Hausmaus beginnt vor 500.000 Jahren im Gebiet des heutigen Iran. Dort lebten ihre Vorfahren. Aus ihnen entwickelten sich drei verschiedene Linien:
- die asiatische Hausmaus
- die östliche Hausmaus
- die westliche Hausmaus.
Aus Grabungen weiß man, dass die Hausmaus sich vor 15.000 Jahren an die Fersen des Menschen geheftet hat, und zwar zu einer Zeit, als die Jäger und Sammler ihre ersten Siedlungen gründeten. Angezogen wurden die Tiere von Essensvorräten und Abfällen.
Maus und Mensch wandern gemeinsam
Im Schlepptau des Menschen reiste der kleine Nager um die ganze Welt. Die asiatische Hausmaus gelangte nach Indien und China. Die östliche wanderte mit den ersten Bauern nach Nordasien aus. Nur Europa blieb überraschend lange Hausmaus-frei. Erst vor etwa 6.000 Jahren erreichte die östliche Hausmaus über die Handelswege entlang der Donau Osteuropa. Nach Westeuropa kam sie erst vor gut 3.000 Jahren, und zwar als blinder Passagier auf phönizischen Handelsschiffen.
Von Westeuropa aus gelangte die Hausmaus dann per Schiff mit auf die britischen Inseln, überquerte den Atlantik und erreichte die Neue Welt, Australien, Taiwan und sogar so abgelegene Orte wie die Färöer-Inseln. Dort musste sie sich an neue Umweltbedingungen anpassen: an ein anderes Klima und andere Nahrung. Gerade auf Inseln gibt es oft wenig Auswahl. Als die Hausmaus vor etwa 100 Jahren auf Helgoland ankam, musste sie sich – was die Ernährung betrifft – komplett umstellen. Da es dort keine Landwirtschaft gibt, fressen die Nager auf Helgoland nur tierische Kost wie Würmer oder Aas.
Evolution im Zeitraffer
Für den Evolutionsbiologen Diethard Tautz vom Max-Planck-Institut in Plön ist die Hausmaus ein ideales Modell, um die Evolution zu erforschen. Er kann dabei sozusagen im Zeitraffer zusehen. Mäuse vermehren sich schnell und haben kurze Generationszeiten. Sie können schon im Alter von etwa zwölf Wochen Junge bekommen und sich in allen Jahreszeiten vermehren. So können sich Mäuse sehr schnell an neue Lebensbedingungen anpassen.
Bei der Suche nach den Genen, die bei der Anpassung eine Rolle spielen, hilft Diethard Tautz eine Datenbank mit dem bereits entschlüsselten Genom der Maus. Findet der Forscher ein Gen, das sich verändert hat, kann er in der Datenbank nachsehen, ob das bekannt ist und welche Funktion es hat.
Dank der Maus hat die Forschund auch ein neues Verständnis von Evolution. Lange gingen Wissenschaftler davon aus, dass 95 Prozent des Genoms schlicht „Schrott“ sind und keine Funktion haben. Doch diese "unnützen" Bereiche des Genoms spielen eine wichtige Rolle bei der Anpassung. Sie sind Geburtsstätten für neue Gene. Die werden fortlaufend erzeugt. Wenn sie nicht gebraucht werden, verschwinden sie wieder. Wenn sie aber aufgrund neuer Lebensbedingungen dem Tier beim Überleben helfen, bleiben diese Gene erhalten und werden an die nachkommenden Generationen vererbt.
Unterlinien, die sich immer stärker unterscheiden
Mit der Zeit bilden sich dadurch neue Unterlinien – was bedeutet, dass die neuen Linien sich in ihrem Genom unterscheiden. So sind etwa auch Mäuse auf Helgoland von den Festlandmäusen genetisch verschieden.
Was passiert, wenn sich verschiedene Mauslinien noch paaren, haben die Forscher im Plöner Mäusehaus untersucht. Dort haben sie deutsche und südfranzösische Mäuse zusammengebracht. Die beiden Linien haben sich vor etwa 3.000 Jahren getrennt und sind so unterschiedlich wie – im groben Vergleich – Homo sapiens und Neandertaler. Trotzdem können sie sich noch paaren. Bei den Nachkommen haben die Forscher eine überraschende Entdeckung gemacht. Mäuse mit südfranzösischem Vater wählen einen südfranzösischen Partner, und Mäuse mit deutschem Vater einen deutschen Partner. Dieses Verhalten wird von Genen gesteuert, die vom Vater vererbt werden.
Für die Tiere ist es wichtig, den Partner zu finden, der am besten an die Umwelt angepasst ist. Es handelt sich dabei um eine Koevolution, bei der die Anpassung an eine neue Umgebung auch durch die Partnerwahl gesteuert wird. Mit der Zeit entstehen dabei neue Mauslinien. Wenn sich Mäuse unterschiedlicher Linien paaren, kann das auch Vorteile haben. Denn dabei werden Gene ausgetauscht, die der jeweils anderen Linie helfen können, sich besser an ihre Umwelt anzupassen.
Autorin: Christiane Streckfuß (BR)
Stand: 07.11.2020 15:38 Uhr