Sa., 08.08.20 | 16:00 Uhr
Das Erste
Der Klang eines Lächelns: So wird aus Bewegung Musik
Ein Blinzeln, das kurze Zucken eines Mundwinkels, ein sich abspreizender Finger: Manche Menschen mit schweren Behinderungen haben kaum andere Möglichkeiten, sich auszudrücken. In den Workshops mit dem Motion Composer sind diese Fähigkeiten aber schon ausreichend. Denn das Gerät verwandelt jede noch so kleine Bewegung in Klänge. Ein kleines Mädchen schaut ungläubig, als sie erkennt, dass sie die Schöpferin der skurrilen Töne ist. Die zuschauenden Kinder sind begeistert, sie klatschen und johlen. Im Mittelpunkt stehen, Anerkennung bekommen für das, was sie tun: Für viele Menschen mit schweren Behinderungen ist das vermutlich ein seltener Moment in ihrem Leben. Das kleine Mädchen vollführt nun eine Bewegung nach der anderen. Immer neue Klänge sind zu hören.
Der Klang eines Lächelns
Der Choreograf und ehemalige Tänzer Robert Wechsler beobachtet die Szene mit einem Lächeln. Er sagt: "Verloren sei uns der Tag, wo nicht ein Mal getanzt wurde". Das sei ein Zitat des deutschen Philosophen Friedrich Wilhelm Nietzsche. Wechsler lebt seit 1990 in Deutschland und ist der Initiator des Motion Composers. Sein Ziel: Das positive Potenzial von Tanz und Musik für alle Menschen zugänglich zu machen – egal, ob sie frei von Behinderungen sind oder nicht. Robert Wechsler ist überzeugt: "Wir sind alle Tänzer; wir sind alle Musiker."
Mit dem Motion Composer zu mehr Inklusion
Bereits Mitte der 1970er-Jahre begann der gebürtige US-Amerikaner mit dem "Motion Tracking" zu experimentieren. Dabei wurden die Bewegungen von Tänzern mittels Körpersensoren erfasst und fast zeitgleich in Musik umgewandelt. Das ganze Prozedere war damals noch sehr umständlich und aufwändig. Die Technologie so einfach bedienbar zu machen, dass sie allen Menschen nutzt: Dieses Ziel lag damals noch in weiter Ferne. Erst 2010 wurde aus der Vision ein konkretes Projekt: Robert Wechsler bekam – mit Unterstützung der Bauhaus Universität in Weimar – eine EU-Förderung für die Entwicklung des Motion Composers und machte sich mit einem Team aus Software Entwicklern, Komponisten und Therapeuten an die Arbeit.
Auf der Suche nach dem guten Ton
"Wenn wir eine Bewegung machen und diese Bewegung löst einen schönen Ton aus und wenn wir davon überzeugt sind, dass wir das gemacht haben, dann sind wir beim Musizieren, dann sind wir beim Tanzen", erklärt Robert Wechsler. Was einfach klingt, ist ein technisch komplexes Unterfangen mit langer Entwicklungszeit. Die Bewegungserfassung erfolgt mithilfe von zwei Kameras. Eine Software wandelt die aufgenommenen Videosequenzen unverzüglich in Datenströme um, die dann in Klänge uminterpretiert werden. Die zentrale Frage dabei: Wie sollen die Bewegungen klingen? Was klingt stimmig und was nicht? Das musste Robert Wechsler mit viel Ausprobieren erst herausfinden. Entscheidend dabei: Der Zusammenhang zwischen der eigenen Bewegung und den erzeugten Klängen muss von den Nutzern und Nutzerinnen auch wahrgenommen werden. Erst so entsteht das Gefühl für den schöpferischen Akt, für die eigene kreative Leistung.
Aus der zweiten Reihe ins Rampenlicht
Ein geistig behinderter Junge tanzt voller Elan. Dann vollführt er eine letzte Bewegung. Die Musik verstummt – und der Applaus der Eltern und der anderen am Workshop teilnehmenden Kinder und Jugendlichen ertönt. Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung und ihre Angehörigen zeigten sich mitunter sehr emotional, wenn sie ihre Erfahrungen mit dem Motion Composer machten, so Robert Wechsler: "Die meisten reagieren überwältigend, mit Emotionen und Freude; es ist nicht außergewöhnlich, Leute beim Weinen zu sehen."
Zum Einsatz kommt der Motion Composer in der Therapie, Rehabilitation und Förderpädagogik – etwa in therapeutischen Praxen, inklusiven Schulen und Kindergärten. Die gesetzlichen Krankenversicherungen übernehmen die Kosten dafür nicht, einige private Krankenkassen schon.
Autor: Markus Plawszewski (SWR)
Stand: 09.08.2020 04:33 Uhr