Sa., 29.01.22 | 16:00 Uhr
Das Erste
Rätselhafte Papyri: Die Entzifferung verborgener Hieroglyphen
Ein Knopfdruck von Prof. Verena Lepper – und schon schiebt sich eine Lage dunkelbrauner Papyri, dicht beschrieben mit schwarzer Tinte langsam aus der sechs Meter langen Vitrine hervor. Es sind Geschichten über Wunder und Zaubersprüche, Verträge, offizielle und persönliche Briefe, medizinisches Wissen und religiöse Texte, die im Nordflügel des Neuen Museums in Berlin ausgestellt werden.
Dokumente aus dem alten Ägypten
Einige dieser Nachrichten aus der Vergangenheit sind bis zu 5.000 Jahre alt, nur wenige Menschen können sie überhaupt noch lesen und verstehen. Darunter die Ägyptologin Prof. Verena Lepper. Sie beherrscht 15 Sprachen aus den verschiedensten Zeitaltern in Wort und Schrift. Neben ägyptischen Sprachen wie Hieratisch, Demotisch und Koptisch beherrscht sie auch mehrere semitische Sprachen, unter anderem Aramäisch, Ugaritisch und Arabisch. Und sie weiß: Gerade die weniger spektakulären Texte verraten viel über die Gesellschaft der damaligen Zeit.
Verena Lepper deutet auf einen bräunlichen Papyrus mit schwarzen Schriftzeichen, die in Reih und Glied untereinander stehen. Es handelt sich um eine Spendenliste für den Bau eines Tempels auf der Nilinsel Elephantine. Sie stammt aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert und dort tauchen auch weibliche Namen auf. Frauen hatten offenbar also eigenes Besitztum, eigenes Geld und konnten frei darüber verfügen! "Wenn man bedenkt, dass es Frauen in Deutschland erst ab 1958 erlaubt war ein eigenes Konto zu eröffnen und damit über ihr eigenes Geld zu entscheiden, eine erstaunliche Tatsache."
Elephantine – eine Insel mit 4.000 Jahren Kulturgeschichte
Die Schriftstücke von der kleinen Nilinsel Elephantine, 1.000 Kilometer südlich von Kairo gelegen, begeistern die 47 Jahre alte Kuratorin der Papyrussammlung des Ägyptischen Museums zu Berlin schon lange. Denn mit ihrer Hilfe kann sie einen fast persönlichen Blick weit zurück in die Vergangenheit werfen.
Die Wörter auf den Papyri erzählen nicht nur die Geschichte der "Großen Männer", von Kriegen, Bündnissen und Handelsabkommen, sie gewähren auch einen Einblick in das Alltagsleben von Menschen die vom 3. vorchristlichen Jahrtausend bis etwa in das Jahr 1.000 unserer Zeitrechnung auf der Nilinsel lebten. Zum Beispiel darüber, dass diese Menschen an Wunder und Magie glaubten. Beleg dafür sind winzige Päckchen aus eng gefaltetem Papyrus. "Einige dieser Päckchen konnten entfaltet und somit lesbar gemacht werden", erklärt Verena Lepper. "Wir finden darin zum Beispiel Texte, die Neugeborenen Schutz vor allem Bösen geben sollen. Diese Päckchen wurden dann den Babys um den Hals gehängt."
Viele andere Papyrus-Päckchen sind so porös, dass man fürchtet schon eine leichte Berührung würde sie zu Bröseln zerfallen lassen. Was steht in ihnen? Das ist eine der vielen Fragen, die Verena Lepper jetzt endlich klären möchte.
Ein Hotspot für Archäologen
Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts bargen der Archäologe Otto Rubensohn und der Philologe Friedrich Zucker auf der Nilinsel Elephantine eine enorme Menge von Papyri und beschriebenen Tonscherben. Schriften die in einem Zeitraum von rund 4.000 Jahren entstanden. Für Archäologen und Historiker ein wahrer Schatz, denn eine so umfassende und kontinuierliche Anhäufung von Schriftstücken von ein und demselben Ort gibt es sonst nirgendwo auf der Welt.
In Metallkisten verpackt, mit ein paar Angaben zum Fundort versehen wurden die Briefe, Dokumente und Aufzeichnungen in die Heimat geschickt. So verfuhren auch Ägyptologen aus anderen Ländern, die auf Elephantine Grabungen durchführten. Heute liegen die geborgenen Tonscherben, Papyri und Papyrusfragmente in rund 60 Einrichtungen in 24 Ländern rund um den Globus verteilt. Nur ein Bruchteil davon wurde bislang aufgearbeitet und publiziert.
Das größte Puzzle der Welt
Eines der größten Konvolute, rund die Hälfte aller geborgenen Schriftstücke, lagert im Ägyptischen Zentrum in Berlin. Von hier aus leitet Verena Lepper das internationale Forschungsprojekt "Localizing 4000 Years of Cultural History. Texts and Scripts from Elephantine Island in Egypt". Ziel ist es, alle erhaltenen Schriften von Elephantine so gut wie möglich zusammenzusetzen, zu übersetzen und zu publizieren.
Beim Öffnen einer der Originalkisten aus dem Jahr 1907 wird die größte Herausforderung dieses Vorhabens sichtbar: In der Kiste liegen keine feinsäuberlich aufgerollten Papyrusrollen sondern Schnipsel! Tausende von Schnipseln. Viele von ihnen sind so klein, dass nur ein paar Buchstaben darauf Platz haben. "Mit dem Geld aus dem ERC Starting Grant des Europäischen Forschungsrats können wir jetzt, mehr als 100 Jahre nach der Bergung der Papypri, anfangen alle diese Texte zusammenzufügen und das Elephantine-Puzzle endlich zu lösen", so Lepper. "Dafür müssen wir die Puzzleteile aber erst einmal reinigen, katalogisieren und soweit es geht nach Farbe, Form und Schrift vorsortieren." Anschließend scannen die Mitglieder des Forschungsprojektes ihre Fragmente und stellen sie in die Onlinedatenbank ein. So können die Kollegen in den verschiedenen Ländern gemeinsam an diesem riesigen Puzzle arbeiten.
Verborgene Texte sichtbar machen
Und dann gibt es da ja auch noch die geheimnisvollen Päckchen. Ganz sicher steht Text auf den fragilen Papyri, das wissen Prof. Lepper und ihre Kollegen von den Exemplaren, die gut genug erhalten waren um sie zu entfalten. Aber gerade die Quellen, an die man nicht heran kommt, wecken den Forschergeist und die Neugier. "Wir wissen zum Beispiel, dass es diese Päckchen als Schutz-Amulette für Neugeborene gab. Aber gab es sie auch noch für andere Zwecke? Aus welcher Zeit stammen sie? Trugen auch Erwachsene solche Papyrus-Amulette? Und wenn ja, was stand darin?" Diese Fragen will Verena Lepper jetzt mit Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen für eines der noch ungeöffneten Päckchen klären.
Seit Jahren tüfteln Physiker, Mathematiker und Informatiker weltweit an Methoden mit denen sie verbrannte, aufgerollte, zerknüllte oder gefaltete Schriftstücke lesbar machen können ohne sie manuell zu öffnen. Eine Zutat ist für dieses Vorhaben unabdingbar, das hat sich bei den unterschiedlichen Versuchen im Laufe der Jahre herauskristallisiert: Metall.
Auf die Tinte kommt es an
Neben der schnell hergestellten schwarzen Alltagstinte aus Ruß und verschiedenen organischen Bindemitteln, wurde in Ägypten auch mit metallhaltiger Tinte geschrieben. Im Gegensatz zur Ruß-Tinte schimmerte sie rot und sie war bestimmt nicht billig. Das darin enthaltene Metall lässt sich heute, Tausende von Jahren nachdem der Schreiber sie aufgetragen hatte, noch mithilfe von Röntgenstrahlung aufspüren. Das soll im Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energie in Berlin passieren. Dort trifft sich Verena Lepper mit dem Physiker Dr. Tobias Arlt. Auch er gehört zum Elephantine-Projekt. Vorsichtig legt die Ägyptologin das fragile Papyrusapäckchen in ein mit Styropor ausgepolstertes Becherglas. Dann übernimmt der Physiker.
Dr. Arlt platziert die Probe in einem Röntgentomograph. Während der Untersuchung dreht sich das Becherglas im Röntgenstrahl, sodass Bilder aus verschiedenen Winkeln entstehen. Ergebnis: ein dreidimensionales Röntgenbild. Darauf zeigen sich ganz deutlich die Metallpartikel im Papyrus, allerdings nur als graue Punkte in der unteren rechten Ecke des Päckchens.
Uralter Text trifft auf modernste Technik
Um herauszufinden, ob es sich dabei wirklich um einen mit metallhaltiger Tinte geschriebenen Text handelt, braucht Verena Lepper die Hilfe von zwei weiteren Experten: den Mathematiker Dr. Daniel Baum und den Informatiker Felix Herther, beide vom Zuse Institut in Berlin. Sie haben eine eigene Software entwickelt, die das Papyrus-Päckchen virtuell entfalten soll. Noch müssen die beiden Wissenschaftler die einzelnen Lagen im 3D-Modell per Hand nachzeichnen, in Zukunft soll auch das automatisch funktionieren. Im nächsten Schritt entfaltet das Computerprogramm dann den Papyrus virtuell zu einer glatten Fläche. Deutlich zeichnet sich die Struktur der Pflanzenfasern des Materials ab. Schließlich legt das Programm die Bild-Informationen aus dem Röntgentomograph auf den virtuell entfalteten Papyrus.
Das Geheimnis ist gelüftet
Vier Schriftzeichen treten gut lesbar aus dem bräunlichen Untergrund hervor. Verena Lepper: "Das erste Zeichen ist ein 'P'. 'P' ist der bestimmte Artikel des Koptischen. Dann kommt ein koptisches Sonderzeichen, also ein ägyptisches Sonderzeichen, dann kommt ein 'O', dann ein 'E'. Das Papyrus-Päckchen enthält eine 1.500 Jahre alte Anrede an den 'Herren Jesus Christus'." Es war vermutlich ein persönliches, religiöses Amulett. Ziemlich sicher ist sich Verena Lepper, dass auf dem Papyrus noch mehr Text steht, vielleicht ein Gebet, ein Psalm oder eine persönliche Bitte, und dass nur die Anrede an Jesus Christus mit der auffällig roten, eisenhaltigen Tinte geschrieben wurde. Der Rest des Textes wurde vermutlich mit normaler Ruß-Tine Tinte geschrieben. Es gibt noch keine Methode, um auch sie wieder sichtbar zu machen, denn sie lässt sich nicht so leicht vom organischen Material des Papyrus unterscheiden.
Die virtuelle Entfaltung des Papyrus-Amulettes ist gelungen, Verena Lepper und ihr Team können ein weiteres Teil in ihr Elephantine-Puzzle einsetzen. Bis das komplette Bild der 4.000-jährigen Kulturgeschichte dieser kleinen Insel im Nil zusammengesetzt ist, wird es noch eine Weile dauern, aber die Ägyptologin ist schon jetzt begeistert von den Ergebnissen: "Von keinem anderen Ort der Welt haben wir so viele Schriftstücke, die die Geschichte und das Alltagsleben einer Gemeinschaft an einem Ort, über einen so langen Zeitraum ganz plastisch wieder auferstehen lassen. Mit unserem Forschungsprojekt können wir jetzt all diese Nachrichten aus der Vergangenheit, die seit mehr als hundert Jahren auf ihre Entschlüsselung warten, lesbar und für die Öffentlichkeit zugänglich machen!"
Autorin: Julia Schwenn (NDR)
Stand: 26.01.2022 11:47 Uhr