So., 30.12.07 | 17:03 Uhr
Das Erste
Rad-Artist: Nieder mit der Schwerkraft
Beim Festival Mondial "Cirque de Demain" in Paris treffen sich jeden Winter die weltbesten Nachwuchsakrobaten und treten in einem Wettbewerb gegeneinander an.
Die Akrobaten hebeln geltende Regeln der Physik scheinbar. Raffiniert jonglieren sie mit Schwerkraft, Zentrifugalkraft, Drehmomenten und Reibung.
Auch Frank Wolf, virtuoser BMX-Radler vom Ku’damm und der einzige deutsche Teilnehmer in Paris beherrscht diese Regeln perfekt. Wenige Wochen vor seinem wichtigen Auftritt trainiert er mit dem Biomechaniker Lars Janshen, der ihn fit machen soll für Paris.
Klares Ziel vor Augen
Der Artist der Straße träumt von einem Sieg in Paris. Er ist eingeladen zum wichtigsten Zirkus-Nachwuchsfestival der Welt: Das "festival de cirque de demain" ist gleichzeitig wichtige Messe für Artisten und Zirkusdirektoren. Dem Gewinner winken Ehre, Ruhm und gute Honorare – der Traum vieler Artisten.
Seit vierzehn Jahren perfektioniert Frank in Unterführungen in Berlin oder am Ku’damm seine waghalsige Fahrradnummer. Jetzt wittert er seine Chance: "Meinereiner, der damals auf der Straße angefangen hat, tritt an gegen klassische Varieteeprofis, die wirklich genau wissen, was sie tun. Das ist eine echte Herausforderung. Ich freue mich auf Paris."
Biomechaniker checkt Kür auf Knackpunkte
Frühmorgens in Berlin. Normalerweise betreut der Biomechaniker Lars Janshen Spitzenkunstturner. Heute aber prüft er die Kür von Frank Wolf auf knifflige Stellen und gibt ihm so wertvolle Tipps für den Wettbewerb in Paris. Video-Kameras zeichnen jede Bewegung auf, während die Reflektoren dafür sorgen, dass den Kameras nichts entgeht. Für räumliche Bewegungsanalysen braucht man zwei Blickrichtungen - also zwei Kameras.
Lars Janshen weiß genau, was einen guten Artisten auszeichnet: "Er selber muss sehr schnell reagieren darauf, was er gerade tut und wo er sich einer Bewegung er sich befindet. Das heißt, einen guten räumlichen Orientierungssinn und auch der sogenannte kinästhetische Sinn, das heißt, wenn ich mich bewege, wo befinde ich mich eigentlich in der Bewegung und wo sind meine Körperteile."
Wo liegt der Schwerpunkt?
Seinen Körper bewegt Frank so, dass sein Schwerpunkt immer exakt über der Standfläche liegt. Dieses Gleichgewichtsgefühl ist für jeden Artisten ein absolutes Muss und der Schwerpunkt des Körpers spielt eine wichtige Rolle. Lars Janshen erklärt: "Man kann sich vorstellen, dass alle Kräfte, die auf uns wirken setzen praktisch am Körperschwerpunkt an. Wenn mein Körperschwerpunkt dann aber nicht über meinen Füßen oder meiner Unterstützungsfläche liegt, dann bin ich nicht im Gleichgewicht. Dann kann ich halt umfallen."
Klingt einfach, ist aber in der Praxis viel schwieriger, besonders bei schnellen Drehungen samt Fahrrad und einer sehr kleinen Standfläche. Jahnsen analysiert eine der schwierigsten Passagen der Kür, eine Pirouette. Wo steckt der Schwerpunkt und warum fällt Frank nicht um?
Videokameras und Computer analysieren die Bewegung
Die Software zeigt als kleinen gelben Kreis den Schwerpunkt von Frank Wolf, und weiß den Schwerpunkt des Rads. Durch Ausbalancieren seines Körpers sorgt Frank für ein Gleichgewicht: Dann liegt der Gesamtschwerpunkt genau in der Drehachse und somit genau über dem Auflagepunkt des Rads.
Auch die Fliehkräfte, die Frank und Fahrrad nach außen ziehen, halten sich genau die Waage. Und ist Franks Pirouette erst mal richtig in Schwung, hilft die Physik: Denn jetzt gilt der Kreiseleffekt: Je schneller Frank dreht, umso stabiler steht er.
Die Kunst des Geradeausfahren
Fährt man geradeaus, fehlt die Stabilisierung des Kreisels, deshalb ist der Sprung von Sattel auf den Lenker sehr knifflig: Frank muss sich drehen und gleichzeitig nach vorne fallen lassen.
In Paris will er diesen Sprung unbedingt zeigen, doch das Sturzrisiko ist groß. Lars Jahnsen erkennt den Fehler. "Also, wenn du auf dem Fahrrad steht einen Fuss hier und einen Fuß hier oben auf dem Lenker. Dann ist es ganz wichtig, dass Du dein Gewicht erst nach vorne verlagerst und dann damit Du Deine Längsachse schon genau über den Lenker bekommst und Dich dann erst zu drehen. Wenn Du das nicht machst und versuchst Dich hinten abzudrücken, bremst Du Dein Fahrrad zu stark, das Fahrrad bleibt stehen, du bewegst Dich aber weiter, aufgrund Deiner Massenträgheit und fällst dann vorne rüber." Nach diesen Profi-Tipps klappt’s tatsächlich. Also: Üben, üben, üben.
Drei Wochen später in Paris
Hinter dem Vorhang herrscht gespannte Stimmung. Die Konkurrenz ist stark, auch Frank ist nervös. 25 Teilnehmer aus der ganzen Welt treten an, die besten vierzehn schaffen es ins große Finale. Frank fühlt sich gut. „Von meinem Gefühl her würde ich sagen, Spitzenleistung ist garantiert. Wie sich das auf die Show und auf die Wertung auswirken wird, das kann ich natürlich bis jetzt noch nicht sagen. Aber ich schätze mal wir werden eher nach oben die Leiter steigen, nicht nach unten. So, wie’s jetzt aussieht von der Energie, kein Problem.“
Die Artisten proben ein letztes Mal vor dem großen Auftritt ihre Nummer. Es ist ihre Chance, entdeckt zu werden - alle träumen vom Gewinnen. Auch für Zirkusdirektoren oder Varieteeveranstalter ist der „Zirkus von morgen“ eine wichtige Messe – Hier treten die besten Neuheiten rund um den Globus auf.
Jede Nummer verfolgt der Präsident der Jury Fredy Knie genau. Den Gewinner des letzten Jahres hat der Schweizer Zirkuschef direkt unter Vertrag genommen. Fredy Knie erklärt: „Zirkus und Showbusiness ist harte Arbeit. Man muss immer am Ball bleiben und muss immer neue Sachen erfinden und neue Kreationen. Wir haben zum Beispiel in der Schweiz jedes Jahr ein ganz neues Programm. Also bin darauf angewiesen auf neue Sachen und auf junge Leute.“ Die besten der Welt findet er hier.
Schafft es Frank Wolf ins große Finale?
Auch Frank Wolf beäugt seine Konkurrenten genau. Dann ist er dran. Diese sieben Minuten zählen. Alle seine Tricks klappen wunderbar, doch auf dem schweren Boden läuft sein Rad nicht richtig gut. Den Lenkersprung riskiert er, trotz harten Trainings, nicht. - Was denkt die Jury?
Frank Wolf ist nicht ganz zufrieden mit dem schweren Teppich in der Manege: "Der Teppichboden ist schwer, der bremst, ist wellig. Das nimmt einem ein bisschen die letzte Energie am Schluss, man hat dann keine Kraft mehr." Frank kommt nicht ins Finale. Etwas enttäuscht nimmt er Abschied vom Zirkus.
Doch vielleicht ist der klassische Zirkus einfach noch nicht reif für einen BMX-Radler vom Ku’damm.
Autor: Dirk Beppler
Stand: 11.05.2012 13:05 Uhr