So., 10.02.08 | 17:03 Uhr
Das Erste
Leben in der Dunkelheit
Seit über zwanzig Jahren gilt die Winterdepression - auch SAD (steht für: „seasonal affected disorder“) genannt - als erwiesene Krankheit, die den Menschen in der dunklen Jahreszeit befällt. Doch gibt es diese Krankheit wirklich?
Sie gilt als nördlichste Metropole der Welt: Die Stadt Tromsø im Norden Norwegens.
300 km nördlich des Polarkreises gelegen, verabschiedet sich die Sonne hier jedes Jahr im Winter für zwei Monate. Das Restlicht taucht die Landschaft mittags für ein paar Stunden in eine sanfte Dämmerung, ehe es wieder ganz Nacht wird.
Nur eine erfundenen Krankheit?
Wenn es tatsächlich eine Winterdepression gibt – müssten hier nicht viele Menschen daran leiden? Wir besuchen die psychiatrische Klinik in Tromsø und fragen Prof. Vidje Hansen nach den angeblichen Winterdepressionen im hohen Norden: "Ich glaube nicht, dass es sie gibt - das ist eine erfundene Krankheit. Als diese These 1984 in Amerika aufgestellt wurde, waren wir sehr überrascht hier im Norden Norwegens. Denn wir Psychiater sehen nicht, dass die Menschen im Winter häufiger über Depressionen klagen, als zu jeder anderen Jahreszeit."
Auch wenn es im Winter nicht mehr Depressionen gibt – die lange Dunkelheit ist keine leichte Zeit, vor allem für Menschen, die draußen arbeiten müssen.
Wie zum Beispiel für den Fischer Kaare Ludviksen, der seit 50 Jahren hier zur See fährt: "Das kann schon hart sein im Januar, wenn Du fast kein Tageslicht hast. Da draußen auf dem Meer sieht man nur einen Streifen Licht am Horizont, aber sonst ist’s die ganze Zeit dunkel. An guten Tagen scheint wenigstens der Mond."
Melatonin sorgt für Müdigkeit
Es ist nicht so sehr die Dunkelheit an sich, die das Leben schwer macht. Der regelmäßige Wechsel von Licht und Dunkelheit beeinflusst unseren Schlaf-Wach-Rhythmus.
Melatonin heißt das Hormon, das dann ausgeschüttet wird, wenn es dunkel wird; und steigt die Melatonin Konzentration im Blut an, so werden wir müde. Während der Dunkelzeit fehlt dieser natürliche Hell-Dunkel Rhythmus, was zu Schlafstörungen führen kann.
Auch die Tiere unterliegen grundsätzlich diesem Mechanismus, und zwar etwas direkter als der Mensch, da sie keine künstliche Tageseinteilung kennen.
Rentiere habe eigenen Schlafrhythmus
Rentiere gelten als besonders angepasste Tiere in der Arktis, was sich u.a. daran zeigt, dass sie einem eigenen Tagesrhythmus folgen, wie der Zoologe Karl-Arne Stokkan nachweisen konnte: "Sie sind jeweils sechs bis acht Stunden aktiv und schlafen dann drei, vier manchmal auch sechs Stunden. Sie haben keine regelmäßigen Schlafphasen alle 24 Stunden, wie wir Menschen."
Die Schlafgewohnheiten der Rentiere haben sich also vom Tag-Nacht-Rhythmus abgekoppelt, eine genetische Anpassung. Auf den Menschen hingegen lassen sich diese Resultate nicht so einfach übertragen: “Wir sind keine arktischen Tiere. Wir sind quasi tropische oder subtropische Tiere und erst vor Kurzem hier eingewandert.“
Keine Depressionen
"Vor Kurzem" bedeutet in diesem Fall: vor ungefähr tausend Jahren - viel zu wenig Zeit für eine genetische Anpassung. Das Fehlen des Tag-Nacht Wechsels hat dadurch tatsächlich Auswirkungen auf die Menschen – wenn auch nicht in Form von Depressionen.
Der Psychiater Vidje Hansen machte andere Erfahrungen: "Seit 1980 haben wir 30 000 Leute nach ihren Problemen in der Winterzeit befragt. Ein Fünftel leidet unter Schlafstörungen und dauernder Müdigkeit, aber für Depressionen fanden wir keinerlei Anzeichen."
Stimmung klimaabhängig?
Bleibt bloß die Frage, wie es denn zur allgemeinen Auffassung kommen konnte, dass die Nordländer vermehrt unter "Winterdepressionen" leiden.
Für Vidje Hansen sind die älteren Studien einfach zu ungenau: "Wenn überhaupt, könnte die Stimmung vom Klima abhängen, nicht so sehr von der Dunkelheit. Viele Menschen mögen bestimmte Witterungen nicht. Wir haben die Fragebögen aus der amerikanischen Studie von Versuchspersonen in Tromsø und in Norditalien ausfüllen lassen. Und im Oktober und November – da ist das Wetter in Italien schlecht – erscheinen die Italiener stärker winterdepressiv als die Menschen in Tromsø."
In Tromsø ist das Wetter im Winter meistens schön – eine zauberhafte Stimmung, finden viele, die hier wohnen. Und das hilft über so manche Stimmungsschwankung hinweg.
Autor: Martin Andersson
Stand: 27.09.2012 15:48 Uhr