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Die 2. Chance fürs Gehirn

Ein Mann wird beim Telefonieren vom Blitz getroffen. Er überlebt. Doch etwas hat sich in seinem Gehirn verändert: Plötzlich hat er ein unstillbares Verlangen nach Klaviermusik, hört Musik in seinem Kopf, ist besessen von Musik. Und das, obwohl Musik in seinem Leben bisher keine Rolle gespielt hat. Vierzehn Jahre danach gibt er sein erstes öffentliches Klavierkonzert.

Der Unfall

Tony Cicoria
Tony Cicoria | Bild: WDR

Zum Zeitpunkt, an dem sich das Leben von Tony Cicoria radikal ändert, ist er 42 Jahre alt. Er lebt mit seiner Familie in Oneonta, einer Kleinstadt im Staat New York, ist ein angesehener Orthopäde. Am 24. August 1994 ist Cicoria bei einer Familienfeier an einem See im Staat New York. Gegen Nachmittag sucht er einen Münzfernsprecher, um seine Mutter anzurufen. In der Ferne hört er Donnergrollen. Cicoria achtet nicht darauf. Plötzlich schlägt ein Blitz in das Gebäude ein. Er tritt am Telefonhörer aus und trifft Cicoria aus nächster Nähe am Mund, schleudert ihn nach hinten. Cicoria sieht seinen Körper unter sich liegen – eine sogenannte Out-of-body-Erfahrung.

Die Verwandlung

Aber Tony Cicoria ist nicht tot. Die Reanimation einer Krankenschwester ist erfolgreich, Cicoria kommt mit Verbrennungen davon. Äußerlich scheint er wieder hergestellt. Doch ein paar Wochen später überkommt ihn plötzlich ein seltsames Verlangen: Cicoria will Klaviermusik hören, er kann gar nicht mehr genug davon bekommen. Dabei hatte Musik für ihn bisher kaum eine Rolle gespielt. Wenig später stellt eine Bekannte ihr altes Klavier bei ihm unter. Cicoria beginnt zu üben, er will seine Lieblingsmusik spielen. Kurze Zeit später hat er einen seltsamen Traum: "Ich sah mich selbst, wie ich in einer Konzerthalle am Flügel saß und spielte. Ich stand hinter mir und lauschte der Musik. Und auf einmal begriff ich: Das ist nicht irgendeine Musik, das ist meine eigene!"

Von Musik besessen

Cicoria versucht, die Musik nachzuspielen, doch er kann kaum Noten lesen. Aber die Musik in seinem Kopf lässt ihn nicht mehr los. Er hört sie ununterbrochen, bis heute: „Es ist fast wie eine Radio-Frequenz, die ich einstelle; wenn ich am Klavier sitze und mich dieser Frequenz öffne, dann ist es eine kontinuierlich sprudelnde Quelle von Musik.“ Nach seinem Traum besorgt er sich Bücher über Notenschrift. Er nimmt Klavierstunden. Frühmorgens, vor der Arbeit, setzt er sich ans Klavier. Nachts spielt er bis zur Erschöpfung. Cicoria ist besessen. Er ist überzeugt, dass die Musik der einzige Grund war, aus dem er den Blitzschlag überlebt hat.

Ein neurologisches Rätsel

Welche Veränderungen in Tony Cicorias Gehirn seine Musik-Obsession ausgelöst haben, weiß niemand: Cicoria hat sich bisher nicht untersuchen lassen. Doch es gibt Anhaltspunkte. Bekannt ist, dass eine intensivierte Verbindung zwischen dem Schläfenlappen, dem Ort, an dem die meisten akustischen Informationen verarbeitet werden, und dem Limbischen System – der Bereich des Gehirns, in dem Emotionen verarbeitet werden – zu einem gesteigerten Erleben von Musik führen können. Der Blitzschlag könnte genau das in Tony Cicorias Gehirn ausgelöst haben. Erst vor kurzem zeigte eine Studie, was passiert, wenn Musiker improvisieren, ein dem Komponieren vergleichbarer Vorgang. Hier zeigte sich, dass beim Improvisieren Bereiche im Frontalhirn abgeschaltet werden, die fürs rationale Denken zuständig sind. Dafür kommen kreativere Areale stärker zum Zuge, die sonst unterdrückt sind. Möglicherweise hat der Blitzschlag diesen kreativen Zustand in Tony Cicorias Gehirn ausgelöst. Denkbar, dass aus diesem einmaligen Erlebnis bei Tony Cicoria ein permanenter Zustand geworden ist.

In den Kopf heruntergeladen

In den Jahren nach dem Blitzschlag führt Cicoria eine Doppelexistenz: Nach außen lebt er sein altes Leben weiter, arbeitet als Chirurg und Orthopäde. Seine eigentliche Liebe aber gehört der Musik. Er lernt seine Musik aufzuschreiben. Im Januar 2008 gibt Cicoria sein erstes Konzert in seiner Heimatstadt Oneonta. Und die Musik strömt ihm weiter zu. Sein neuestes Projekt ist eine Symphonie: "Es ist so, als wäre sie einfach in meinen Kopf heruntergeladen worden. Und da sitzt sie jetzt. Ich habe keine Ahnung, wie ich eine Symphonie schreiben soll. Aber ich werde es tun. Und da ist noch vieles anderes. Es kommt einfach, immer weiter."

Autor: Jakob Kneser

Stand: 18.09.2015 14:33 Uhr

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