So., 30.08.09 | 16:00 Uhr
Das Erste
Die Bibel der Aborigines
Vor rund 50.000 Jahren, im Morgengrauen der Menschheitsgeschichte, kamen an der Nordwestküste Australiens die ersten Menschen an und besiedelten den südlichen Kontinent. Sie kamen auf Bambusflößen und begründeten die erste menschliche Zivilisation in Australien.
Die Bibel in Stein
Einige Ihrer Nachkommen siedelten sich auf der Burrup-Halbinsel an. In einem Tal, das man das Neandertal der südlichen Hemisphäre nennen könnte, begannen sie, Bilder von Land- und Meerestieren in Felsen zu ritzen. Schätzungsweise eine Million Felsen mit den sogenannten Petroglyphen liegen dort herum, verstreut über eine Fläche von mehr als 100 Quadratkilometern - ein heiliger Ort für die Ureinwohner Australiens. „Es ist die Bibel dieses Landes, die auf diesen Felsen geschrieben steht“, sagt Wilfried Hicks, Stammesältester der Aborigines. „Die weißen Menschen haben ihre Kirche, in die sie gehen, und ein Buch, in dem alles geschrieben steht. Wir Aborigines nicht. Wenn wir unsere Kinder in unsere Riten einführen, dann bringen wir sie hierher, singen von den Tieren und allem, was in diesem Land ist. Unsere Vorfahren haben das alles auf die Felsen geschrieben, damit unsere Kinder das verstehen.“
Nicht nur für die Aborigines wertvoll
In Melbourne am südlichen Ende des Kontinents lebt Robert Bednarik, ein österreichischer Einwanderer, der einer der weltweit führenden Experten für Felszeichnungen ist. Er hat eine Methode entwickelt, das Alter von Felszeichnungen anhand mikroskopischer Kristallpartikel auf der Oberfläche zu bestimmen. Wie schätzt er die Felszeichnungen von Dampier ein? „In einem globalen Kontext ist das nicht nur die größte Ansammlung von Felszeichnungen in Australien, sondern in der ganzen Welt. Es ist auch die größte Kunstgalerie der Welt. Es ist die größte und wichtigste Kulturerbestätte in Australien“, sagt er. In den Felszeichnungen von Dampier bildeten die ersten Menschen Australiens ihre Wirklichkeit ab. Sie erzählen einen Schöpfungsmythos, der dem der christlichen Bibel sehr ähnlich ist - tausende Jahre bevor diese geschrieben wurde. Sie erzählen, wie zuerst die Tiere und dann der Mensch auf die Erde kamen. Die Künstler, die dort am Werk waren, hatten in ihrer Gesellschaft einen hohen Rang. Sie waren die Hohepriester ihrer Kultur und Religion.
Ihre Bilder haben eine tiefe Symbolik, die nur von Eingeweihten verstanden wird. Viele Interpretationen sind möglich, die Erforschung der Felskunst von Dampier steht erst am Anfang.
Bedrohung der Kunstschätze
Um nachzuweisen, von wo und wie die ersten Australier hierher kamen, unternahm Robert Bednarik mehrere Experimentalreisen auf einfachen Bambus-Flößen. Von der indonesischen Insel Timor segelte er in 13 Tagen etwa 1.000 Kilometer zu Australiens Nordküste. Und er ist auch ein Aktivist, der seit Jahrzehnten für den Schutz der Aboriginal Bibel vor industrieller Erschließung kämpft. Denn die Felszeichnungen sind im gleichen Gebiet wie ein riesiger petrochemischer Komplex. Die Gas-Raffinerien, Düngemittelfabriken und Eisenerz-Bergwerke dieser Region sind der Motor der australischen Wirtschaft und Schauplatz eines beispiellosen Exportbooms. Tausende wertvoller Kunststücke wurden bereits entfernt oder zerstört. Wilfried Hicks ist empört: „Wenn du einen Felsen entfernt hast, dann hast du sein Erbe zerstört. Du hast den Geist zerstört, der in diesen Felsen lebt. Und deshalb trauern wir Tag und Nacht um unsere Kultur. Wir sehen, was die europäischen Einwanderer hier machen, die Bergwerkskonzerne und so weiter. Da waren so viele Dinge, die sie nicht hätten wegschaffen sollen – und sie haben es trotzdem getan.“
Noch größer ist die Bedrohung durch den sauren Regen, der durch das Abfackeln des Gases entsteht. Die hier gemessenen CO2-Emissionen entsprechen dem Abgas von einer Million Autos. Der saure Regen greift die Oberfläche der Felsen an. Wenn der CO2-Ausstoß im augenblicklichen Umfang anhält, ist die Bibel der Aborigines bis zum Ende dieses Jahrhunderts verschwunden. Robert Bednarik gibt zu bedenken: „Die Frage ist doch: Würden es die Engländer erlauben, eine petrochemische Fabrik neben Stonehenge zu bauen. Oder die Ägypter bei den Pyramiden? Oder die Franzosen bei den Felszeichnungen von Lascaux? Und die stehen alle auf der Liste der Welt-Kulturerbe-Stätten. Warum verhindert es unsere Regierung, dass sie auf diese Liste kommen?
Auch wenn die australische Regierung es nicht wahrhaben will: Die Felszeichnungen der Burrup-Halbinsel sind ein Weltkulturerbe, sie gehören zu den ältesten Gesamtkunstwerken der Menschheit. Wenn nicht bald etwas zu ihrem Schutz geschieht, sind sie verloren – unwiederbringlich!
Adressen & Links
Australian Rock Art Research Association (AURA)
Ansprechpartner: Robert Bednarik
P.O. Box 216
Caulfield South
Victoria 3162
Australia
Telefon: + 61-3-9523 0549
auraweb (at) hotmail.com
Autor: Ulli Weißbach (BR)
Stand: 13.06.2014 14:52 Uhr