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Impfen – Ja oder nein?

Reisende schützen sich im April gegen das Grippevirus
Reisende schützen sich mit einem Mundschutz | Bild: dpa

Die Schweinegrippe hat in Deutschland eine erstaunliche Medienkarriere absolviert: Von der gefürchteten Seuche, der "Jahrhundert-Pandemie", als die sie im Frühjahr noch reißerisch bezeichnet wurde, ist sie inzwischen auf ein gesundes Normalmaß geschrumpft. Angesichts geringer Fallzahlen und eines milden Krankheitsverlaufs hat sie ihren Schrecken verloren: Eine gewisse Gleichgültigkeit macht sich breit.

Doch während mehr und mehr kritische Stimmen die deutschen Pandemie-Pläne als völlig überzogen abtun, haben die Seuchenschützer des Robert-Koch-Instituts noch keine Entwarnung gegeben. Die Impfung soll wie geplant Mitte Oktober starten, nachdem die EU-Kommission dem Pandemie-Impfstoff jetzt die formale Zulassung erteilt hat. Spätestens dann stellt sich also für jeden Einzelnen die Frage: Impfen – ja oder nein?

Für eine Entwarnung ist es zu früh

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Schwere der Pandemie bisher als moderat eingestuft. In Europa gab es etwa 170 Todesfälle, die mit der Schweinegrippe in Verbindung gebracht werden. Viele, aber nicht alle schweren Fälle, sind bei Menschen mit Grunderkrankungen aufgetreten, auch Schwangere haben offenbar ein erhöhtes Komplikationsrisiko.

In Deutschland wurden bislang 20.648 Fälle offiziell registriert (Stand 30. September), mit überwiegend milden Krankheitsverläufen. Die Dunkelziffer der nicht registrierten Fälle dürfte deutlich darüber liegen. So schreibt das Robert-Koch-Institut auf seiner Webseite: "Das Niveau der akuten respiratorischen Infektionen liegt weiterhin in einem für die Jahreszeit üblichen Bereich, so dass noch nicht von einer relevanten Auswirkung der neuen Influenza auf Bevölkerungsebene auszugehen ist."

Für eine Entwarnung ist es dennoch zu früh, schließlich stehen wir erst am Anfang der klassischen Grippe-Saison in den Herbst- und Wintermonaten. Die Berichte von der Südhalbkugel, wo der Winter gerade zu Ende geht, geben einen Ausblick auf das, was auch uns in den kommenden Monaten bevorstehen könnte. Demnach verzeichnete Australien eine drei bis fünf Mal höhere Rate an Grippe-Infektionen als in den Vorjahren. "Ich wäre sehr überrascht, wenn die Entwicklung auf der Nordhalbkugel einen anderen Verlauf nähme als auf der Südhalbkugel", so die Schweizer Immunologin und Impfexpertin Claire-Anne Siegrist von der Universität Genf.
Eine zweite Schweinegrippe-Welle mit einer deutlich höheren Zahl an Erkrankungen steht uns also bevor, diese Meinung teilen viele Experten. Noch gibt es keine Anzeichen, dass das Virus selbst aggressiver wird, doch mit der Zahl der Fälle steigt auch die Zahl der Komplikationen und schwerwiegender Krankheitsverläufe. Wer sich dann erst für eine Impfung entscheidet, kommt womöglich zu spät. Zwischen der Impfung und dem Aufbau des Impfschutzes vergehen zwei bis drei Wochen.

Die "getunte" Impfung

Ein Impfstoff gegen die Schweinegrippe
Der Impfstoff ist mittlerweile zugelassen | Bild: dpa

Impfen ja oder nein – die Diskussion geht nicht allein um die Frage, wie gefährlich die Schweinegrippe tatsächlich ist, sondern auch darum, mit welchen Risiken und Nebenwirkungen die Impfung selbst möglicherweise behaftet ist. Der Pandemie-Impfstoff "Pandemrix" des Pharmaherstellers GlaxoSmithKline enthält neben Bestandteilen abgetöteter H1N1-Viren, dem "Antigen", zusätzlich einen Wirkverstärker, das so genannte "Adjuvans". Hierbei handelt es sich um eine Emulsion, die im wesentlichen aus Ölen, Wasser und Vitamin E besteht, und die das Immunsystem anregen soll, verstärkt Antikörper gegen die Schweinegrippe zu bilden. Die Impfung ist "getunt".

Der Grund, warum man sich für einen solcherart adjuvantierten Impfstoff entschieden hat, liegt in der beschränkten Menge, des derzeit verfügbaren Antigens. Das neuartige Schweinegrippe-Virus, mit dessen Züchtung die Pharmahersteller erst im Juni beginnen konnten, muss erst in ausreichender Menge hergestellt werden. Die Kombination mit einem Wirkverstärker hat nun den Vorteil, dass nur etwa ein Drittel des herkömmlicherweise in einem Grippe-Impfstoff enthaltenen Virus-Antigens denselben Impfschutz gewährleistet, als bei einer nicht-adjuvantierten Impfung. So kann der Impfstoff noch rechtzeitig vor Beginn der Grippesaison in der nötigen Stückzahl produziert werden.

Die adjuvantierte Impfung hat möglicherweise noch einen weiteren Vorteil: "Das Adjuvans steigert nicht nur die Stärke der Immunreaktion, sondern auch ihre Qualität. Gebildet werden Antikörper mit einer breiteren Wirkung. Das heißt, wenn das Virus der Schweinegrippe sich verändert – und das tut es permanent – ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass die Antikörper auch das veränderte Virus erkennen und außer Gefecht setzen", hofft Claire-Anne Siegrist.

Zu Risiken und Nebenwirkungen...

Ganz so positiv sehen Kritiker den Einsatz der Wirkverstärker nicht, denn sie verstärken auch unerwünschte Reaktionen des Immunsystems. Neun von zehn Teilnehmern klinischer Studien mit dem neuen Impfstoff hatten leichte Schmerzen und Schwellungen an der Einstichstelle, seltener kam es zu Kopfschmerzen, Müdigkeit oder grippeähnlichen Symptomen wie Fieber.
Dass die Impfung in Einzelfällen sogar schwere gesundheitliche Schäden auslösen könnte, ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht gänzlich auszuschließen, fürchtet Wolfgang Becker-Brüser vom Arzneimittelinformationsdienst: "Das Problem sind die Nebenwirkungen, die potenziell lebensbedrohlich sein können. Das sind aufsteigende Lähmungen beispielsweise, die die Atemmuskulatur betreffen können. Man weiß, dass das bisweilen eine Nebenwirkung auch von Grippeimpfungen sein kann. Und wenn diese Nebenwirkungen verstärkt werden sollten, hätten wir ein Problem. Auch wenn das selten vorkommt: Werden Millionen Menschen geimpft, dann sind auch seltene Ereignisse zahlenmäßig häufig."

Weil die Zeit drängt, durchlief der neue Impfstoff in der Tat ein beschleunigtes Zulassungsverfahren. Einige Tausend Probanden haben sich dafür seit August testweise impfen lassen. Aber genügen Tests an ein paar Tausend, wenn Millionen geimpft werden sollen? Mehr geht nicht, sagt Claire-Anne Siegrist von der Universität Genf, die zugleich Präsidentin der Schweizer Impfkommission ist: Das Risiko schwerwiegender Nebenwirkungen liege in der Größenordnung von 1 zu 100.000 oder noch darunter, und zwar für jede Art von Impfung. Ein solches Restrisiko könne in klinischen Studien niemals erkannt werden. "Die einzige Möglichkeit ist daher, den Impfstoff zu lizensieren und seinen Einsatz sorgfältig zu überwachen", so die Impfexpertin. Das minimale Risiko einer schwerwiegenden Nebenwirkung stehe in keinem Verhältnis zur Gefahr, welche die Schweinegrippe für kranke und gebrechliche Menschen darstelle.

Wer sollte sich impfen lassen?

Noch steht die offizielle Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) für Deutschland aus, doch das Robert-Koch-Institut empfiehlt:
"Personen mit Grunderkrankungen haben sowohl bei saisonaler Influenza als auch bei der Neuen Influenza A(H1N1) ein erhöhtes Risiko, schwere Krankheitsverläufe zu entwickeln. Besonderes gefährdet sind dabei Personen, die beispielsweise eine eingeschränkte Lungenfunktion durch Asthma oder COPD beziehungsweise ein eingeschränktes Immunsystem durch eine zugrundeliegende Erkrankung oder Medikamenteneinnahme haben. Personen mit Grunderkrankungen sollten daher rechtzeitig gegen saisonale als auch gegen die Neue Influenza A(H1N1) geimpft werden, sobald der Impfstoff verfügbar ist."

Personen mit Grunderkrankungen, Schwangere und Mitarbeiter der Gesundheitsdienste sollten sich also vorsorglich impfen lassen. Darüber hinaus muss jede und jeder selbst entscheiden, ob und wie er sich vor einer möglichen Grippeerkrankung schützen will. Klar ist nur: Mit der Impfung ist es wie mit einer Versicherung: Ist der Schaden erst da, ist es für einen Schutz zu spät.

Autor: Jochen Becker (NDR)

Stand: 11.05.2012 13:00 Uhr

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