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Stillen ist dufte!

Über die Ursprünge des Geschmacks

Mozart in der Schwangerschaft, Streicheleinheiten auf dem Bauch: Moderne Eltern wissen, dass Ungeborene hören und fühlen können. Und manche bemühen sich nach Kräften, das Kind schon im Mutterleib optimal zu fördern. Eine sehr einfache Art, das Baby sowohl auf ein gesundes als auch auf ein genussreiches Leben vorzubereiten, empfehlen französische Wissenschaftler: Wenn Mütter abwechslungsreich und vielseitig essen, bekommt das ungeborene Baby über das Fruchtwasser Spuren von Aromen mit. Je vielseitiger diese sind, desto größer wird die Auswahl an Lebensmitteln sein, die das Kind nach der Stillphase akzeptiert – die Grundlage für ein gesundes Essverhalten. "Das Kind wächst schon in einer Welt der Geschmacksnoten heran", sagt Benoist Schaal, "und das hat seinen biologischen Sinn." Schaal ist wissenschaftlicher Leiter des europäischen Zentrums für Geschmacksforschung in Dijon (Centre Européen des Sciences du Gout).

Geschmacksforschung im Land der Gourmets

In Dijon, mitten in einer der berühmtesten Feinschmecker-Regionen Europas, sind Biologen und Psychologen schon seit Jahren den Ursprüngen des Geschmacks auf der Spur. Was wem warum schmeckt, ist offensichtlich keine Frage der Gene, sondern der frühen Gewöhnung: Bereits seit den 1990er Jahren experimentierten die Dijoner Forscher mit Aromen, die sie Schwangeren zu essen gaben, zum Beispiel Anis. Die Kinder, die später geboren wurden, zeigten eine frühe Vorliebe für den Geschmack von Anis – ein Gewürz, das in Frankreich traditionell in Getränken und Speisen verwendet wird. "Was die Mutter isst, wird über die Plazenta an den Fötus übertragen, und der Fötus inhaliert ganz eindeutig Fruchtwasser. Das Fruchtwasser steht mit den Geruchsrezeptoren in Kontakt und wird ständig erneuert, liefert also auch immer neue Reize und stimuliert die Nase. Diese Information gelangt in das Gehirn des Fötus, wo sie sich einprägt, bis nach der Geburt. Und diese sehr frühe Geruchserfahrung beeinflusst das Essverhalten zum Zeitpunkt nach der Muttermilch, nämlich Vorlieben und Vielseitigkeit bei der Nahrungsauswahl", erläutert Benoit Schaal.

Riechen und Schmecken gehören zusammen

Gleich nach der Geburt geht es weiter mit der Entwicklung des Geschmacks, und zwar auch über den Geruchssinn. Grund dafür ist die Sinnesphysiologie, denn Geruch und Geschmack gehören zusammen: Für das, was man gemeinhin Geschmack nennt, ist zu rund 80 Prozent die Nase verantwortlich, und nur zu etwa 20 Prozent der Mund. Das weiß jeder, der schon einmal einen heftigen Schnupfen hatte. Wenn man dann isst, bleiben nur plumpe Zungenreize übrig – wie süß, salzig, scharf oder bitter. Alle Aromen, die die meisten Lebensmittel so gut schmecken lassen, bleiben außen vor, etwa der köstliche Geschmack von reifem Käse, von Wein, Kaffee, Schokolade, frischem Brot oder reifem Obst. Wenn die Nase verstopft ist, fällt der Geschmack aus.

Geruch der Mutter prägt den Geschmack

Stillen
Mehr als nur Nahrungsaufnahme | Bild: WDR

Auch für diese wichtige Verschränkung beider Sinne spielen ganz frühe Erfahrungen eine Rolle. Die Geruchswahrnehmung an der Mutterbrust könnte die spätere Essensauswahl ebenso beeinflussen wie vielfältige Aromen im Fruchtwasser, vermuten die Dijoner Wissenschaftler. Schon die Muttermilch schmeckt nicht jeden Tag gleich, sondern verändert sich im Geschmack, je nachdem, was die Mutter isst. Dazu bekommen die Säuglinge an der Mutterbrust durch den Körpergeruch der Mutter wichtige Duftreize. Wie prägend gerade diese spezielle Geruchserfahrung beim Stillen ist, haben die französischen Forscher an Neugeborenen und Säuglingen untersucht.

Schnell zur Quelle

Auf die Idee, Riechtests mit Neugeborenen zu machen, kamen die Geschmacksforscher durch die Beobachtung von Tierbabys. Neugeborene Kaninchen sind noch blind, sie finden die Zitzen ihrer Mutter mit Hilfe von Duftstoffen. Diese so genannten Pheromone lösen bei ihnen einen Reflex aus: Sie fangen an, mit dem Kopf zu zittern und mit den Pfoten zu wühlen, um die unsichtbare Milchquelle zu erreichen. Schnell an die Nahrung zu kommen, ist lebenswichtig, denn im Käfig wie in der Natur sind die Mütter immer nur wenige Minuten zum Stillen da. Immer balgen sich mehrere Jungen um die Zitzen, die von Haaren bedeckt sind und nicht bloß liegen. Jede Sekunde, in der die Kaninchen saugen können, zählt. Daher ist die Duftkommunikation bei Tieren ein ganz besonderes Signal.

Duftdrüsen beim Menschen

Brustwarzen
Winzige Hügel rund um die Brustwarze dienen der Duftkommunikation | Bild: WDR

Die Wissenschaftler haben sich daraufhin auch menschliche Brustwarzen genauer angesehen. In einer Testreihe auf der Entbindungsstation der Uniklinik in Dijon fotografierte ein Mitarbeiter die Brüste von jungen Müttern. Die Brustwarzen zeigen kleine Erhebungen auf dem Warzenvorhof. Diese winzigen Hügel sind tatsächlich Duftdrüsen: Sie sondern Talg mit dem Körpergeruch der Mutter ab. Der ist nicht nur bestimmt durch den individuellen Duft, sondern auch durch den Stoffwechsel und die Ernährung der Mutter. Wie sich herausstellte, gab es Frauen mit nur wenigen Duftdrüsen, die meisten hatten zwischen 10 und 15, einige wenige über 40 Drüsen. Und die Kinder von Müttern mit vielen Duftdrüsen gediehen laut den Beobachtungen der Franzosen tatsächlich besser, waren aktiver an der Brust, saugten stärker, tranken mehr und nahmen schneller zu. Das Ganze ist ein Wechselspiel: Je mehr Duft, desto aktiver das Kind. Das stimuliert wieder die Brust, so schießt mehr Milch ein und das Kind trinkt besser.

Eingeprägt für lange Zeit

Darüber hinaus haben die französischen Forscher die Reaktion von Neugeborenen auf den Geruch an der Mutterbrust sowie ihr Erinnerungsvermögen getestet. In einem spektakulären Versuch konnten sie zeigen, wie wenige Tage alte Kinder schon auf Gerüche an der Mutterbrust reagieren und wie lange solche Eindrücke im Gedächtnis bleiben. Dazu wurden junge Mütter, die wegen Brustbeschwerden eine medizinische Salbe benutzen mussten, gesucht. Diesen Frauen gaben die Geschmacksforscher ein geeignetes Präparat, das den Duft von natürlicher Kamille enthielt. Damit rieben sich die Frauen die Brust ein, und stillten so auch ihre neugeborenen Kinder. Zum Test kamen die Säuglinge in einen Spezialsitz. Links und rechts vom Kopf waren Duftproben angebracht, einmal von der Creme an der Brust, einmal ein anderer Geruch. Die Reaktionen wurden per Videokamera gefilmt und von einer Psychologin genau erfasst. Tatsächlich reagierten die Kleinen deutlich auf den vertrauten Geruch von der Mutterbrust, und zwar mit Saug- und Schmeckbewegungen. Diese gehören zu den natürlichen Äußerungen eines Säuglings, wenn er sich wohl fühlt und ihm etwas gefällt. Bei Wiederholungen konnten die Franzosen zeigen, dass sechs oder sieben Monate alte, abgestillte Kinder immer noch Gerüche bevorzugten, die sie an der Brust kennen gelernt hatten – und sogar Kinder, die fast zwei Jahre alt waren, erinnerten sich noch daran.

Stillen ist die beste Geschmacksschule

Die Muttermilch und das Stillen, so das Fazit der Franzosen, bieten dem Kind vielfältige Geruchs- und Geschmacksreize, die das Gehirn anregen, den Geschmacksinn bilden und die Kinder auch darauf vorbereiten, ein Spektrum an Nahrungsmitteln zu akzeptieren, das ihre Mütter und Familien lieben. Anders Kinder, die mit der Flasche aufgezogen werden: Flaschennahrung schmeckt immer gleich, es sind Standardgemische aus der Industrie, ergänzt vom Gummigeruch des Saugers. Gestillte Kinder bekommen dagegen jeden Tag einen neuen, mit den wechselnden Essgewohnheiten bestimmten Cocktail. Wie prägend diese Erfahrungen sind, weiß jeder: Mamas Küche bleibt zeitlebens die Beste.

Autorin: Johanna Bayer

Stand: 12.08.2015 13:06 Uhr

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So., 26.04.09 | 17:10 Uhr
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