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Über den Berg

Kriminell oder krank?

Drogensüchtige überwinden den Berg und dabei auch ihre eigenen Grenzen
Drogensüchtige überwinden den Berg und dabei auch ihre eigenen Grenzen. | Bild: DasErste

Landläufig gelten Drogensüchtige oft als Kriminelle. In der modernen Suchtforschung und Drogentherapie ist man von solchen Vorstellungen längst abgekommen. Hier ist es unumstritten, dass Sucht eine chronische Krankheit ist. Eine Krankheit, die unbehandelt bei Abhängigkeit von harten und illegalen Drogen letztlich zum Tode führt. Jedes Jahr, so Schätzungen, sterben ca. 2,5 bis 3 Prozent der Opiatabhängigen: An einer Überdosis, Vergiftungen, Unfällen, Selbstmord oder Infektionen, die sie sich im Zusammenhang mit ihrer Drogensucht zugezogen haben, beispielsweise HIV oder Hepatitis durch die Benutzung nicht steriler Spritzen. Das bedeutet, dass nach 20 Jahren nahezu jeder zweite unbehandelte Heroinsüchtige tot ist. Dies zeigt – ebenso wie die sozialen Folgen der Abhängigkeit - wie dringend behandlungsbedürftig die Sucht ist.

Neue Therapien

Neue, auf den einzelnen Suchtkranken abgestimmte Therapien sind nötig. Wittmann sieht den in der Vergangenheit häufig praktizierten und auch heute noch gängigen Entzug mit Aufenthalt in einer geschlossenen Einrichtung als generellen Lösungsversuch skeptisch. Während der Therapie ist der Suchtkranke zwar relativ geschützt. Sobald er aber die geschlossene Therapie verlässt, wird er wieder in den Drogenalltag, in die harte Realität entlassen, ohne den Schutz dieser “Käseglocke” und ohne gelernt zu haben, seine Probleme im Alltag zu bewältigen. Das geht oft schief. Die Rückfallquote liegt bei bis zu 90 Prozent. Wittmann steht daher für die offene Therapie, in der die Suchtkranken in ihrem Alltag lernen, ohne Drogen klar zu kommen.

Abkehr von der Abstinenz

“Frei von Drogen” - das war bis kurzem noch das große Ziel jeder Therapie. Und auch heute noch ist dies das Dogma der Drogenpolitik. Der Suchtkranke soll über kurz oder lang komplett ohne Drogen auskommen. Die Süchtigen und die Gesellschaft sollen von der Sucht befreit werden, also: Entzug und anschließende totale Abstinenz. In der Therapieforschung allerdings gab es in den letzten Jahren eine Abkehr von diesem Dogma.
Die hohe Rückfallquote der Therapien war der Anlass, neue Wege zu überlegen. Einer ist der Weg der Substitution – der Suchtkranke erhält von zugelassenen Ärzten oder Apotheken einen Ersatzstoff für die illegale Droge, wie etwa Methadon oder Subutex. Beide Substanzen sind zwar ebenfalls Opiate, erzeugen aber bei Heroinabhängigen keinen Rauschzustand, der so genannte “Kick” bleibt aus.

Mit Drogen gegen Drogen

Dafür dämpfen Methadon und Subutex jedoch die Entzugserscheinungen, wenn der Abhängige sich entschließt, auf Heroin zu verzichten. Das heißt, er kann mit Hilfe der Ersatzdroge relativ leicht das Heroin absetzen. Der Vorteil: Er muss sich keine illegale Droge mehr besorgen – die Beschaffungskriminalität und der damit verbundene psychische Druck fallen weg. Der Abhängige hat jetzt Zeit, sich um sein soziales Leben, um einen Beruf oder eine Ausbildung zu kümmern. Und er läuft nicht mehr Gefahr, durch verunreinigten Stoff oder unsaubere Spritzen seine Gesundheit oder sein Leben zu gefährden. Da die Ersatzdroge auf Krankenschein vergeben wird, bleibt dem Abhängigen auch mehr Geld – für Miete oder für eine gesunde Ernährung – die Verelendung des Suchtkranken wird gestoppt.

Die Hütte ist erreicht - ein erstes Etappenziel
Die Hütte ist erreicht - ein erstes Etappenziel.

Doch die Einnahme von Ersatzdrogen hat auch Nachteile. Zum einen machen Methadon und Subutex noch stärker abhängig als Heroin. Zum anderen erzeugen sie eben nicht die Euphorie bzw. die Betäubung der illegalen Drogen. Vielen Abhängigen fehlt daher bei Substitution oft das für sie entlastende Drogenerlebnis – sie nehmen zusätzlich zum Methadon bzw. Subutex noch Heroin oder andere Drogen, was jedoch im Rahmen des Substitutionsprogramms streng verboten ist. Hinzu kommt: Obwohl es keine Euphorie erzeugt, wird Methadon unter Suchtkranken mittlerweile ebenfalls illegal gehandelt.
Doch die Vorteile der Substitution überwiegen, so dass sie mittlerweile zum Standard geworden ist. Aufgrund der guten Erfahrungen mit der Gabe von Ersatzdrogen wurde dieses Jahr sogar die kontrollierte Gabe von pharmazeutisch hergestelltem Heroin, dem Diamorphin, gesetzlich zugelassen – wenngleich zunächst nur für bestimmte Schwerstabhängige unter sehr strengen Auflagen. Auch hier ist das Hauptziel, die Suchtkranken aus dem kriminellen Milieu zu holen.
Parallel zur Entkriminalisierung kommt es immer mehr zur Erkenntnis in der Drogentherapie, dass nicht unbedingt Abstinenz das Ziel, sondern wenn dieses nicht erreichbar ist, dann ein bewusster, kontrollierter Umgang mit der Droge das Ziel sein sollte.

KISS

KISS – Kontrolle Im Selbstbestimmten Substanzkonsum – ist eine neue Verhaltenstherapie, die Drogensüchtigen helfen soll, ihren Konsum zu kontrollieren, zu reduzieren. Dadurch sollen sie lernen, Drogen in einem Maß zu konsumieren, das sozialverträglich ist, und das es ihnen ermöglicht ein – mehr oder weniger – normales Leben zu führen, ihren Gesundheitszustand und auch die materielle Situation verbessert. Das Ziel ist – wie oben schon beschrieben – nicht unbedingt die völlige Abstinenz, sondern der bewusste Umgang mit der Droge.
Dies geschieht durch das Ausarbeiten eines Konsumplans, dem Führen eines Konsumtagebuchs und Festlegen von Konsumzielen (welche Menge will ich in einer Woche maximal zu mir nehmen?). Außerdem lernen die Suchtkranken Situationen zu vermeiden, die sie zur Einnahme von Drogen bewegen und sie setzen sich intensiv mit ihrer Suchtdynamik auseinander, das heißt sie lernen sich und ihr Suchtverhalten besser zu verstehen.

Über den Berg

Die Tour über die Alpen orientiert sich an dieser Haltung der neuen Therapie. Der Suchtkranke wird als psychisch Kranker, als Patient wahrgenommen, dessen soziale und psychische Situation verbessert werden soll. Das soll dadurch geschehen, dass das Selbstbewusstsein der Suchtkranken gestärkt wird, sie Erfolgserlebnisse erfahren (positive Bestärkung) und positive emotionale Erfahrungen ohne Drogen machen. All das ist, so Norbert Wittmann, für die Suchtkranken entscheidend und in den Bergen möglich. Der meist körperlich geschwächte Drogensüchtige erlebt seinen eigenen Erfolg, seine eigene Stärke bei der Bewältigung der Höhentour. Und er erlebt auch die Anerkennung anderer.

Viele Suchtkranke leiden an psychischen Störungen, etwa Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen. Nicht selten sind diese psychischen Erkrankungen ein Auslöser für die Einnahme von Drogen. Durch die psychische Bestärkung, aber auch durch die schönen Erlebnisse während einer Alpentour, das Naturerleben und die Gemeinschaft in der Gruppe, haben die Teilnehmer die Chance, psychisch so gefestigt zurückzukehren, dass sie noch einen Berg überwinden können – ihre Drogensucht.

Adressen & Links

Die Seite, auf der über das Suchthilfe-Projekt berichtet wird:
www.xn--ber-den-berg-clb.de

Der Verein Mudra informiert auf dieser Seite über Substitutionsmöglichkeiten für Drogenabhängige:
www.mudra-online.de

Stand: 11.05.2012 13:08 Uhr

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