So., 08.03.09 | 17:03 Uhr
Das Erste
Zwillingsforschung - Erkenntnis für die ganze Familie
Die längste Beziehung
Es gibt eine soziale Beziehung im Leben die sehr viel länger ist als alle anderen. Sie ist länger als die zu den eigenen Eltern, länger als die zu den Kindern oder dem Partner. Drei Viertel der Deutschen haben Geschwister und die begleiten sie fast das gesamte Leben lang. Auch wenn wenig oder sogar gar kein Kontakt mehr zum Bruder oder zur Schwester besteht, die Beziehung endet nie. Man kann keine Nicht-Beziehung zu den Geschwistern haben, sind sich Psychologen heute einig. Fest steht: Geschwister-Dasein bedeutet ein hoch komplexes Gefühlswirrwarr. Doch wie das genau funktioniert, da steht die Forschung noch ganz am Anfang.
Zwillingsforschung
Ein Forscherteam um Dr. Meike Watzlawik vom Institut für Entwicklungspsychologie der Technischen Universität Braunschweig hat sich deshalb in einer groß angelegten Studie verschiedenen Geschwisterkonstellationen während der Pubertät gewidmet. Im Mittelpunkt der Arbeit standen eineiige Zwillinge, denen immer wieder eine ganz besondere Verbindung nachgesagt wird. Im Mittelalter dachten die Menschen sogar, dass sich diese ganz besonderen Geschwister eine einzige Seele teilen. Das Interesse der Braunschweiger Psychologen war eher anderer Natur: Eineiige Zwillinge sind Geschwister mit Seltenheitswert, zwei Menschen mit demselben genetischen Bauplan. Können sie der Forschung helfen, die Mechanismen unter Geschwistern zu entschlüsseln?
Wahrnehmung der Geschwisterbeziehung
Drei Jahre lang haben sie deshalb Zwillinge und "normale Geschwister" beobachtet und miteinander verglichen. Sie wollten wissen, ob eineiige Zwillinge wirklich so viel anders sind als Kinder, die ein oder eineinhalb Jahre auseinander sind. So groß war nämlich der maximale Altersabstand der untersuchten Geschwister. Enorme Datenberge sind dabei entstanden. "Es ging darum, so ein bisschen etwas über die Geschwisterbeziehung heraus zu bekommen, wie die Kinder die Geschwisterbeziehung wahrnehmen. Generell war die Vermutung, dass je weniger Ähnlichkeiten zwischen den Kindern zu finden sind, dass dann auch die Geschwisterbeziehung unterschiedlicher erlebt wird oder weniger relevant ist", erläutert Sandrine Clodius. Die Diplom-Psychologin gehörte auch zum Braunschweiger Forscherteam.
Die jüngsten Kinder waren zu Beginn der Studie zehn Jahre alt, die ältesten 15. Untersucht wurden fünf verschiedene Gruppen: eineiige Zwillinge, zweieiige Zwillinge gleichen Geschlechts, Zwillingspaare, "normale" Geschwister gleichen Geschlechts und die Kombination Schwester und Bruder.
Nicht mit- aber auch nie ohne einander
Bei der Untersuchungsmethode entschieden sich die Braunschweiger Geschwisterforscher für ausführliche Fragebögen für die Eltern und getrennte Interviews mit den Kindern. Keiner aus der Familie erfuhr, was der andere gesagt oder angekreuzt hat. Wer versteht sich am besten? Harmonieren eineiige Zwillinge eigentlich wirklich so besonders gut, wie die Menschen oft denken?
"Mein Bruder hat meistens recht. Er ist immer der erste, der etwas weiß", sagt Marvin Ließmann. Und sein Zwillingsbruder Jörn-Eric ergänzt: "Manchmal ist es halt so, da hat man so ein kleines Stechen untereinander. Man hat ein bisschen Streit, kabbelt sich dann und dann geht es auch wieder." Die Zwillinge waren eins von den 107 untersuchten Geschwisterpaaren der Studie. Harmonie und Streit liegen bei ihnen dicht beieinander. Gleiches gilt aber auch für den 16jährigen Maik Ströhlein und seinen eineinhalb Jahre älteren Bruder Pascal. Die beiden nahmen ebenfalls beim Geschwisterprojekt teil. Auch sie wollen manchmal nicht miteinander, aber niemals ohne einander auskommen. "Es war sehr spannend, dass tatsächlich die Aussagen von fast allen Kindern, also unabhängig von der Geschwisterkonstellation, in die gleiche Richtung gingen. Alle Kinder haben betont, dass das Wichtigste ist, den Rückhalt beim Zwilling oder Geschwisterkind zu haben, die Möglichkeit zu haben, für einander da zu sein", fasst Sandrine Clodius zusammen.
Gemeinsame Aufgabenbewältigung
Doch Fragebögen allein waren den Wissenschaftlern nicht genug. Um die unbewussten Seiten der Geschwisterbeziehung aufzudecken, setzten sie eine Videokamera ein. Die Aufgabe für die Kinder: mit Bauklötzen einen möglichst hohen Turm bauen. Wer kooperiert? Wer gerät in Streit? Und wer versteht sich auch ohne Worte? Die Ergebnisse waren überraschend. Alle Geschwisterkonstellationen arbeiteten zusammen. Feine Unterschiede machte dann aber das Geschlecht. Mädchen scheinen laut der Beobachtungen mehr nonverbal miteinander zu kommunizieren. Sie tauschen mehr Blicke, Berührungen oder Lächeln aus als zwei Jungen. Die gemischten Paare pendelten sich im Durchschnitt in der Mitte ein.
Egal ob Zwilling oder nicht, für alle Geschwister gleichermaßen gilt, dass sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung starken Einfluss aufeinander nehmen. Sie lernen gemeinsam das ganze Spektrum menschlicher Gefühle, von Liebe über Hass, Freude und Trauer bis hin zu Rivalität. Im einen Moment sind sie Verbündete und im nächsten schon erbitterte Feinde. Auf der Suche nach der eigenen Identität finden sie dann ganz unterschiedliche Nischen in den Familien. Ist die Rolle des Vernünftigen schon besetzt, findet der andere vielleicht seinen Platz als kreativer Chaot.
Besonderheit bei eineiigen Zwillingen
Eineiige Zwillinge müssen auf dem Weg zur eigenen Identität noch einen Hürde mehr nehmen. Als Kleinkinder ist es für sie deutlich schwerer, sich selbst im Spiegel oder auf Fotos zu erkennen. Sie fragen sich, bin ich das oder mein Bruder? Das Bild vom eigenen Ich entwickelt sich meist ein paar Monate später als bei anderen Kindern. Noch als Jugendliche werden sie von außen ständig als Doppelpack wahrgenommen. Aus ihrer Zwillingsbeziehung ziehen sie zwar Selbstbewusstsein, jedoch grenzen sie sich dann auch oft ganz bewusst vom Zwilling ab. Den Mythos, dass eineiige Zwillinge so besonders eng verbunden sind, dass sie sogar ein unsichtbares Band verbindet, konnten die Braunschweiger Wissenschaftler mit ihrer Studie widerlegen. "Was wir spannender Weise gefunden haben, ist, dass sich die verschiedenen Geschwisterkonstellationen auf emotionaler Ebene nicht voneinander unterscheiden. Das heißt, eineiige Zwillinge stehen sich laut unserer Projektergebnisse nicht emotional näher als beispielsweise gegengeschlechtliche Geschwisterkinder", so Clodius.
Insgesamt verbringen Zwillinge zwar etwas mehr Zeit miteinander als andere Geschwister, doch auch sie nabeln sich genau so wie alle anderen Jugendlichen in der Pubertät vom Geschwisterkind ab. Freunde und die erste Liebe werden wichtig. Das gilt auch für Zwillinge. Am Ende sind sie eben auch nur ganz "normale" Geschwister.
Adressen & Links
Institut für Entwicklungspsychologie, TU Braunschweig
Sandrine Clodius
Spielmannstr. 19, 38106 Braunschweig
Tel.: (0531) 39 12 562
E-Mail: s.clodius(at)tu-bs.de
Internet: psypost.psych.nat.tu-bs.de
Autorin: Britta Eisenhuth
Stand: 12.08.2015 11:42 Uhr