So., 17.10.10 | 17:03 Uhr
Das Erste
Der alte Mann und der Hummer
Die Küstengewässer vor Stonington am Golf von Maine war einst ein Fischparadies: es wimmelte von Kabeljau, Heilbutt und anderen Grundfischen, die in der Nähe des Gewässerbodens leben und jagen.
Ted Ames hat diese Zeiten noch erlebt. Heute fängt er nur noch Hummer - die Fischbestände sind nach jahrelanger Überfischung völlig zusammengebrochen.
Der 71-jährige ist nicht nur in xter-Generation Fischer, sondern auch Forscher – und ein offiziell anerkanntes Genie: für seine Arbeit als Meeresbiologe erhielt er den prestigeträchtigen "MacArthur Genius Award", dotiert mit 500.000 Dollar. Er gehört zu den angesehensten Experten auf dem Gebiet, wie sich Bestände effektiv befischen gleichzeitig schützen lassen.
Fischer und Forscher
Ames vereint in sich zwei Berufsgruppen, die sich gewöhnlich sehr skeptisch gegenüberstehen. Für Wissenschaftler sind Fischer oft zu rücksichtslos mit den Beständen der Natur. Und Fischer fühlen sich von den Vorschlägen und Auflagen der Theoretiker schnell in ihrer Existenz gefährdet. Für Ames ist die "Personalunion" kein Widerspruch, im Gegenteil: "Fischer sind vorzügliche Beobachter ihres unmittelbaren Umgebung, in der sie arbeiten. Wissenschaftler liefern gewöhnlich die größeren Zusammenhänge – und es ist recht einfach, von einem Feld ins andere zu springen, wenn du die entsprechende Ausbildung hast."
Kaum Kummer mit dem Hummer
70 Millionen Pfund Hummer gingen 2009 vor Maine in die Fallen, drei mal mehr als vor 20 Jahren – und das bei stabilen Beständen. Dabei profitieren die Hummer zweifelsfrei vom Fehlen der Fische, die zu ihren natürlichen Feinden zählen. Doch den entscheidenden Faktor sieht Ames in einem rigorosen Management-System. Die Fischer müssen jedes Tier messen und zu kleine oder die größten und fruchtbarsten Hummer zurück ins Meer werfen.
Allen ist klar: Sollten auch die Hummer verschwinden, es wäre an dieser Ecke von Maine das Ende der Branche. Mit seinem MacArthur-Preisgeld und Fördergeldern errichtete Ames deshalb vor vier Jahren in seinem "Penobscot East Resource Center" ein Testlabor zum Züchten von Hummerlarven. Sie sollen Fanggebiete stabilisieren, in denen es inzwischen schon zu wenig natürlichen Nachwuchs gibt. Ein wichtiger Kniff ist dabei der Einsatz von sprudelndem Wasser in den Aufzucht-Behältern: Es verhindert mit seinen Wirbeln, dass sich der Nachwuchs gegenseitig frisst.
Labor-Larven im Atlantik
Hunderttausende der Labor-Larven wurden inzwischen an ausgewählten Stellen freigesetzt. Doch das alleine hat hier noch niemanden beeindruckt. Ted braucht Beweise: "Das Dilemma für Wissenschaftler bei der Akzeptanz von Zuchtstationen für Hummer oder andere Meerestiere ist: Es lässt sich schlecht beweisen, dass sie funktionieren", erklärt Ames. "Dadurch heißt es auf einmal: Wenn du nichts beweisen kannst, verschwendest du deine Zeit. Wenn du keinen nachweisbaren Nutzen demonstrieren kannst, verschwendest du Geld."
Suche nach Überlebenden
Deshalb gehen einmal jährlich Forscher-Kollegen von der University of Maine der Hummer-Überlebensquote auf den Grund. Sie tauchen nicht nur an den vier ausgewählten Stellen, sondern auch an vergleichbaren Kontrollstellen, an denen keine Hummer ausgesetzt wurden. "Unsere Aufgabe", beschreibt Tauchleiter und Meeresbiologe Rick Wahle von der University of Maine, "unsere Aufgabe hier ist, auf eine wissenschaftliche Weise zu versuchen, die Hummer aufzuspüren, die wir freigesetzt haben. Das machen wir mit Hilfe eines Unterwasser-Staubsaugers, den wir 'suction sampler' nennen. Wir können so Stichproben am Boden nehmen, wo die Tiere freigesetzt wurden, und das Ganze zu einer Schätzung der Hummer-Population hochrechnen."
Ergebnis: 15 Prozent der Hummerlarven haben überlebt und so die Fanggebiete stabilisiert. Das Resultat könnte besser sein, wenn statt der sogenannten Stage 4-Larven (bis circa 15 Millimeter groß) die größeren Stage-5-Larven ausgesetzt werden könnten. Doch für die Zucht im Labor wäre das erheblich komplizierter und kostspieliger: Die aggressiven Stage-5-Tiere können nicht mehr allein durch sprudelndes Wasser davon abgehalten werden, sich gegenseitig zu fressen.
Wichtigstes Ziel: die Rückkehr der Fische
Das große Ziel von Ted Ames ist aber die Rückkehr der Grundfische. Er will die durch Überfischung zusammen gebrochenen Bestände vor Maines Küste wieder aufbauen. Der ungewöhnliche Ansatz des "historischen Ökologen", wie er sich selbst nennt, ist es, die alten Laich- und Wanderwege der Fische exakt zu rekonstruieren. Dazu nutzte er einen Vorteil, den er als Fischer gegenüber anderen Wissenschaftlern genießt, er befragte viele der ältesten und erfahrensten Fischer "unter Kollegen" nach ihren Erinnerungen. Und die gewöhnlich misstrauischen Männer verrieten ihre Geheimnisse. Zweifellos begünstigt durch den Umstand, dass mögliche Konkurrenten nun keinen direkten Nutzen mehr aus den Informationen ziehen können.
Ames ist mit dem Ergebnis hochzufrieden: "Ich habe herausgefunden, dass es eine erstaunliche Bevölkerungsstruktur gab. Statt einer riesigen homogenen Fischgruppe hatten wir in unserem Untersuchungsgebiet vier Gruppen. Mit verschiedenen Laichgründen und Wanderstrecken – und ihre Bevölkerungszahlen schwankten unabhängig voneinander."
Hoffnung auf Kooperation
Kleinere Untergruppen lassen sich gezielter und daher leichter wieder aufbauen. Wenn man die Laichgründe besonders schützt und dazu die Dämme in den einmündenden Flüssen reduziert, dann können die Fische einfacher wandern und ablaichen. Mit einem ähnlich rigorosen Management wie bei den Hummern, das zeigen Computer-Simulationen aus Ted Ames´ Institut, könnte eine allmähliche Erholung der Fischpopulation gelingen. "Wir müssen die Wanderwege schützen, die Laichplätze und die Gegenden, in denen die Tiere aufwachsen. Und, ganz ehrlich: die einzigen, die das effektiv machen können, sind die Leute, die sie fangen. Fischer, Wissenschaftler und Behörden müssen kooperieren, um die Bestände aufzubauen. Im Moment haben wir das aber nicht. Wir sind Gegner." Doch Ames wirbt weiter für Kooperation von Forschern und Fischern. Denn ohne sie gibt es kein Happy-End – weder für den alten Mann noch das Meer.
Autor: Dominique Gradenwitz (NDR)
Stand: 12.08.2015 12:56 Uhr