So., 16.10.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Blind für Gefühle
Man sieht es ihm nicht an: Hans hat viele Freunde, arbeitet erfolgreich als Lehrer und pflegt Hobbys wie das Singen im Chor. Und doch unterscheidet ihn etwas von anderen. Er ist "gefühlsblind", alexithym, wie es Emotionsforscher nennen. Eine Eigenschaft, die mehr als jeden zehnten Menschen unterschiedlich stark betrifft. Emotionen wie Trauer, Wut und Freude erleben Alexithyme nur sehr reduziert, einige sind gar vollkommen blind dafür.
Vor allen Dingen die Angehörigen gefühlsblinder Menschen leiden unter der Wahrnehmungsstörung. Auch Eva: Sie liebt seit 16 Jahren einen Mann, der kaum Gefühle zeigen kann, selbst beim Tod nahestehender Menschen. "Als seine Oma gestorben ist, hat er gar keine Emotionen gezeigt, da war gar nichts, er wirkte ganz kalt", berichtet sie. Und auch ihre Gefühle kann er nicht richtig wahrnehmen. "Wenn ich traurig bin, kommt er nicht zu mir, sondern ich muss zu ihm gehen", erzählt Eva. "Das ist manchmal, als würde ich eine Taste drücken, wie bei einem Roboter. Er hat verschiedene Programme - und wenn ich etwas von ihm will, weiß ich, welche Taste ich drücken muss."
Gesichtsblindheit: keine Krankheit, aber sie macht krank
Doch empfinden Alexithyme tatsächlich weniger oder können sie Gefühle nur nicht erkennen und äußern? Ein großes Forschungsprojekt der Freien Universität Berlin will dieses Rätsel lösen. Bisher weiß die Wissenschaft nur wenig über Gefühlsblindheit und ihre Folgen. Sicher sei nur eines, so die Psychiaterin Isabella Heuser: "Alexithymie selbst ist ein Persönlichkeitsmerkmal, keine Krankheit. Allerdings ist es so, dass Menschen mit einer starken Ausprägung auch ein höheres Risiko haben, an seelischen Erkrankungen zu leiden."
Gedämpfte Gefühle
Woran liegt das? Haben Alexithyme wie Stefan doch unterdrückte Gefühle, die unbewusst in ihnen arbeiten und sie so krank machen? Um das herauszufinden, durchleuchten die Emotionsforscher die Gehirne von Betroffenen im Kernspintomografen, während sie ihnen Fotos mit positiven und negativen Gesichtsausdrücken zeigen. Dabei wird die Aktivität in den "emotionalen Netzwerken" des Gehirns gemessen.
Das Ergebnis: Egal, ob sie traurige, wütende oder fröhliche Gesichtsausdrücke gezeigt bekommen, im Gehirn gefühlsblinder Probanden sind die Reaktionsmuster anders als bei der Kontrollgruppe. "Bei den fröhlichen Gesichtern zeigen die hochalexithymen Probanden eine Unteraktivität. Das heißt, sie sind nicht so leicht anregbar", erklärt die Psychiaterin Isabella Heuser. "Und die Probanden geben auch an, dass sie insgesamt weniger von diesen positiven Emotionen berührt sind."
Die Kindheit als Auslöser?
Doch warum fühlen Alexithyme nachweislich weniger mit anderen mit? Die Forscher vermuten einen Zusammenhang mit dem Stoffwechsel ihrer Stresshormone. Per Speichelprobe bestimmten sie den morgendlichen Spiegel des Stresshormons Cortisol: Bei Alexithymen ist er niedriger als üblich. Eine Schutzfunktion ihres Körpers, interpretiert Isabella Heuser. Denn fast alle Gefühlsblinden geben an, als Kind emotional vernachlässigt worden zu sein.
Um sich gegen diese Form von Stress zu schützen, fährt der Körper erfahrungsgemäß die Cortisolproduktion runter. Das stellt die entscheidenden Weichen für gedämpfte Gefühlsreaktionen im späteren Leben. Auch Hans glaubt, dass ihm Erlebnisse in seiner Kindheit bis heute emotionale Nähe zu anderen erschweren: "Meine Mutter war eher unberechenbar, man wusste nie genau, woran man ist. Sie konnte sehr eng mit mir sein - und dann im nächsten Augenblick wieder völlige Distanz. Ich konnte damit nicht umgehen."
Gesichtsblinde nutzen eher Gestik als Mimik
Wer den Umgang mit Gefühlen unter schlechten Bedingungen lernt, bei dem schlägt sich das nicht nur in späteren Beziehungen nieder. Auch der sprachliche Ausdruck, die Mimik und die Gestik werden von Betroffenen anders genutzt. Videointerviews mit gesichtsblinden Probanden wie Hans zeigen: Sie bewegen weniger ihr Gesicht, um Emotionen auszudrücken - ihre Mimik ist reduziert. Doch wenn Gefühlsblinde über emotionale Themen sprechen, gestikulieren sie wesentlich mehr als Personen aus der Kontrollgruppe - eine Entdeckung, mit der die Forscher nicht gerechnet hätten.
Eine endgültige Interpretation dieses Sachverhalts ist allerdings noch nicht möglich. Eine mögliche Erklärung wäre, dass sich die Unsicherheit im Umgang mit Gefühlen durch verstärktes Gestikulieren ausdrückt.
Emotionale Reaktionen trainieren
Sind also doch mehr Gefühle da, als Wissenschaftler bislang messen konnten? Suchen sie sich über unbewusste Gesten einen Weg nach außen? Erst die genauere Gesten-Analyse wird das zeigen. Sicher ist allerdings schon jetzt: Alexithyme können ihren Gefühlsausdruck auch als Erwachsene noch erfolgreich schulen. Der Berliner Forschungsschwerpunkt will dazu auch bald Trainingsmöglichkeiten anbieten.
Hans schult seinen emotionalen Ausdruck schon seit Jahren selbst: mindestens einmal wöchentlich beim Singen - in mehrstündigen Chorproben und Konzerten.
Adressen & Literatur
Elif Alkan-Härtwig ("Languages of Emotion", Berliner Alexithymie Inventar - BALI 1)
Freie Universität Berlin
Cluster Languages of Emotion
Psychologie
Habelschwerdter Allee 45
14195 Berlin
Tel.: (030) 83 85 78 40
E-Mail: elif.alkan(at)fu-berlin.de
Lesetipps
Alexithymie: Eine Störung der Affektregulation
Konzepte, Klinik und Therapie
Autoren: Hans Jörgen Grabe/Michael Rufer (Hrsg.)
Verlga Hans Huber, Stadt 2009
240 Seiten, 29.95 Euro
Zum Inhalt: Wenn Menschen nicht zwischen körperlichen Empfindungen und Gefühlsregungen unterscheiden können, Gefühle häufig nur als diffuse Spannungs- oder Erregungszustände wahrgenommen werden und keine bewusste Verarbeitung von Gefühlen stattfindet, spricht man von Alexithymie. Da auch emotionale Bedürfnisse von Mitmenschen nicht ausreichend erkannt und berücksichtigt werden, kommt es zu Unverständnis und Beziehungskonflikten. In diesem Buch stellen Experten die wissenschaftliche Entwicklung des Alexithymiekonstrukts dar, die entwicklungspsychologischen Hintergründe und die pathopsychologischen Prozesse, die zu dem Störungsbild führen.
Was ist Alexithymie?
Der Begriff ist ein griechisches Kunstwort und bedeutet wörtlich "Gefühle nicht lesen können". Dabei geht man davon aus, dass alexithyme Menschen Gefühle bei sich und anderen nicht erkennen und benennen können. Erforscht wird dazu unter anderem, inwiefern sie tatsächlich weniger empfinden als andere Menschen, oder ob es sich mehr um eine Schwierigkeit der Interpretation und des Ausdrucks von Gefühlen handelt. Alexithymie ist keine krankhafte Störung, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal.
Autorin: Scarlet Löhrke (SWR)
Stand: 29.07.2015 13:21 Uhr