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Der Alpensteinbock

Die Rückkehr des Alpenkönigs

Ein Alpensteinbock
Im 19. Jahrhundert wurde der Steinbock fast ausgerottet | Bild: BR

Anfang des 19. Jahrhunderts war er so gut wie ausgerottet: der Alpensteinbock. Um 1820 gab es vermutlich nur noch 50 bis 60 der imposanten Tiere. Dass in der Schweiz keine der Ziegen mit den bis zu ein Meter langen Hörnern überlebt hatte, empfanden viele Einheimische als nationale Schande. Immerhin war der Alpensteinbock sogar das Wappentier des Kantons Graubünden.

"Illegale" Reise der Steinböcke

Die Schweizer planten schon Ende des 19. Jahrhunderts, Steinböcke wieder anzusiedeln. Dazu brauchten sie Tiere aus dem italienischen Gran-Paradiso-Gebiet. Nur dort hatten einige Dutzend überlebt und sich, dank der Schutzgesetze des damaligen Königs, auf bis zu etwa 3.000 Tiere vermehrt. Aber der König wollte den Schweizern kein Tier überlassen. Das ließ bei den Schweizern den Plan entstehen, italienische Wilderer damit zu beauftragen, Steinböcke zu fangen und in die Schweiz zu schmuggeln. 1860 wurden so die ersten Tiere illegal von Wilderern zu den Eidgenossen gebracht.

Die Rolle der Zoos

Ein Zootierarzt trägt ein betäubtes Tier
Nur durch die Zuchtarbeit der Zoos konnten die Alpen wieder mit Steinböcken besiedelt werden | Bild: BR

Aber diese ersten Tiere waren vermutlich noch zu jung, um überleben zu können - sie gingen ein. 1892 wurde der "Wildpark Peter und Paul" in St. Gallen gegründet. Anfang des 20. Jahrhunderts ließ der Zoo insgesamt 16 Tiere von Wilderern einfangen. Und 1909 konnte der Zoo den ersten Zuchterfolg, das erste im Zoo "gesetzte" Kitz melden. Nach und nach gründeten die Schweizer weitere Tier- und Wildparks und auch Nationalparks, in denen sie geschmuggelte Tiere züchteten und immer wieder auswilderten. Mit den Nachkommen dieser Parks und des St. Gallener Zoos wurden die weitaus meisten Steinböcke gezüchtet, die heute wieder große Areale in den Alpen besiedeln - rund 40.000 Stück. Ohne die Zoos würde es heute wohl kaum so viele Alpensteinböcke geben.

Die Erfolgsgeschichte geht weiter

Ein Alpensteinbock
Für Touristen eine Attraktion: ein Steinbock in der Wildnis | Bild: BR

Und noch immer werden jedes Jahr Steinböcke im gesamten Alpenraum ausgewildert. Zum einen wollen Waldbesitzer damit ihren Wald aufwerten - Steinböcke kommen gut an bei Touristen. Zum anderen aber auch aus Gründen des Artenschutzes: Denn die besiedelten Gebiete sind wie Inseln, die jeweiligen Populationen haben keine Verbindung zueinander. Jede Population bleibt unter sich, es gibt keinen genetischen Austausch. Daher werden immer wieder kleine Gruppen neuer Tiere zugesetzt, um das "Blut der Tiere aufzufrischen".

Ein dritter Grund für das Aussetzen: Viele Populationen sind noch klein. Eine Gruppe hat aber auf Dauer nur eine Überlebenschance, wenn sie wohl mindestens 70 Tiere bis 100 Tiere umfasst - das zeigt zumindest die Erfahrung der bisherigen Auswilderungen. Immer wieder werden Steinböcke durch Krankheiten wie die Räude oder durch Futterknappheit - wie etwa im besonders harten Winter 1999 - dezimiert. Nur große Populationen haben solche Ereignisse überlebt.

Via Innsbruck in die Freiheit

Ein junger Steinbock schaut aus dem Transportkäfig
Sieben Tiere aus dem Berner Zoo sollen ausgewildert werden. | Bild: BR

Im Mai 2011 ist es wieder einmal so weit: Der Berner Zoo Dählhölzli hat sieben Tiere übrig. Besonders wichtig: Alle Tiere sind jung genug, um sich in einer neuen Umgebung einzuleben. Aber sie sind auch schon alt genug, um sicher zu überleben, also zwischen zwei und drei Jahre alt. Außerdem sind sie robust, vital und haben keine Krankheiten. Zudem kennen sich alle Tiere, können gemeinsam eine kleine Herde bilden. Und die Tiere sind nicht zu sehr an den Menschen gewöhnt, haben also ihren Fluchtinstinkt behalten - eine wichtige Voraussetzung, um später in der freien Natur überleben zu können.

Zunächst werden die Tiere in den Innsbrucker Alpenzoo gebracht, der die Auswilderung aller Steinböcke koordiniert. Dort bleiben sie noch etwa zwei Wochen und werden an "naturnahes" Futter gewöhnt - kein Zoofutter, sondern frische Blätter und Gras. Die Haltung im Auswilderungsgehege des Alpenzoos hat noch einen Grund: " Wir müssen warten, bis es auch in etwa 2.000 Metern Höhe schneefrei ist, damit die Tiere dann auch sofort Futter finden, um sich für den Winter fett fressen zu können", so der verantwortliche Zoo-Kurator Dirk Ullrich.

Vier Wochen später werden die Tiere mit Betäubungspfeilen per Blasrohr und Luftpistole narkotisiert und anschließend nochmals auf Krankheitserreger, wie die Paratuberkulose oder Brucellose untersucht. Dann werden sie einzeln oder paarweise in Transportkisten gelegt, wo sie über Nacht aus der Narkose aufwachen. Außerdem bekommen die Tiere große Ohrmarken, um später per Fernrohr leicht identifiziert werden zu können.

Genetischer Flaschenhals

Ein Alpensteinbock
Für das Überleben der Tiere ist eine genetische Vielfalt nötig | Bild: BR

Was fehlt, ist eine genetische Untersuchung der Tiere: "Dazu fehlt uns das Geld", bedauert Dirk Ullrich. Er weiß, dass es wichtig wäre zu wissen, welche genetische Ausstattung die Tiere jeweils besitzen. Denn alle Steinböcke sind, so Dirk Ullrich, durch einen "genetischen Flaschenhals" gegangen: Alle stammen ja zunächst von den wenigen Tieren aus dem Gran-Paradiso-Gebiet und später von noch weniger Tieren aus der Zucht der Schweizer Zoos und Wildparks ab. Heute weiß niemand, wie ähnlich das Erbgut der einzelnen Tiere ist.

Eine große genetische Vielfalt wäre aber wichtig. So haben die Steinbock-Populationen bessere Chancen, mit Krankheiten und sich ändernden Umweltbedingungen fertig zu werden. Eine Studie etwa prognostiziert, dass sich bei zwei Grad Celsius Erderwärmung in den nächsten Jahrzehnten der Lebensraum des Steinwilds um rund 80 Prozent verringern könnte. Wie kommen die Tiere damit zurecht? Eine große genetische Vielfalt würde ihnen vielleicht auch das Leben in anderen Lebensräumen, mit anderen klimatischen Bedingungen, einer anderen Pflanzenwelt ermöglichen.

Sieben "Neue" für die Steiermark

Ein junger Steinbock mit zwei Ohrmarken
Die jungen Steinböcke haben in der Steiermark eine neue Heimat | Bild: BR

Aber das ist noch nicht erforscht. Niemand weiß, wie groß oder klein das genetische Potenzial der Steinböcke ist. Immerhin haben sie sich seit dem 2. Weltkrieg gut vermehrt, Krankheiten, harte Winter, Futterknappheit, Lawinen und Steinschläge überlebt. Das gibt Hoffnung. Hoffnung gibt auch der Wunsch vieler Alpengemeinden, den Tieren Platz geben zu wollen und wieder Steinwild anzusiedeln. Wie etwa die Gemeinde Kleinsölk in der Steiermark. Dorthin geht die Reise der sieben Steinböcke aus dem Berner Zoo. Die Tiere haben die Narkose gut überstanden, und sind auf dem Pritschenwagen hellwach. Das ist gut, damit sie sicher auf den Beinen stehen und das Gerüttel im Wagen ausgleichen können, in Kurven etwa nicht verletzt werden.

Nach vier Stunden Autobahn und Landstraße ist das Ziel, ihre künftige Heimat, erreicht: die Schladminger Tauern. Vier Mitarbeiter der hiesigen Forstverwaltung tragen die Boxen mit den Steinböcken in den Wald. Revierleiter Peter Wiesenbauer zieht eine Klappe an der Stirnseite der Transportbox hoch - und nach einer Schrecksekunde jagen die Tiere einen bewaldeten Hang hinauf in die Freiheit. Nach 200 Jahren ist der Alpenkönig auch hier in den Schladminger Tauern wieder zurück.

Literatur

Von Königen und Wilderern – die Rettung und Wiederansiedelung des Alpensteinbocks

Marco Giacometti, Hans J. Blankenhorn, Jost Schneider
Salm Verlag Wohlen/Bern (Juni 2006)
224 Seiten, etwa 33 Euro

Der Steinbock – Biologie und Jagd

Marco Giacometti, Peter Meile, Peider Ratti
Salm Verlag Wohlen/Bern (2003)
272 Seiten, etwa 120 Euro

Autor: Jan Kerckhoff (BR)

Stand: 31.10.2012 12:16 Uhr

Sendetermin

So., 31.07.11 | 17:03 Uhr
Das Erste

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