So., 13.02.11 | 17:03 Uhr
Das Erste
Der Mann ohne Gedächtnis
Auf den ersten Blick wirkt Rene völlig gesund, doch selbst einfache Tätigkeiten wie Brötchen kaufen oder den Frühstückstisch decken sind für den 40-Jährigen eine Herausforderung. Rene leidet an Gedächtnisverlust, einer Amnesie.
Der 12. Dezember 1996 ist der Tag, der alles verändert. Rene befindet sich auf dem Rückweg von einem Verwandtenbesuch, als sein Auto bei einem Bremsmanöver ins Schleudern gerät und rückwärts in den Gegenverkehr prallt. Diagnose: Schädelhirntrauma. Der damals 26-jährige Versicherungsmakler liegt mehrere Tage im Koma. Als er erwacht, fühlt er sich zunächst normal. Doch der starke Aufprall hat bei ihm eine sogenannte anterograde Amnesie ausgelöst: Seine Merkfähigkeit für neue Bewusstseinsinhalte ist massiv reduziert, oft bleiben neue Eindrücke nur noch wenige Minuten im Gedächtnis haften. Er steht etwa im Laden und vergisst, was er einkaufen will, auch wenn es sich nur um einen Gegenstand handelt. Er vergisst, was er gegessen hat oder ob er ein Ereignis nur im Fernsehen gesehen oder in echt erlebt hat. Selbst Urlaube mit seiner Lebensgefährtin verschwinden aus seinem Gedächtnis. Erst, wenn er Fotos sieht, kommen die Erinnerungen langsam wieder.
Aktiv trotz Amnesie
Häufig leiden Amnesie-Betroffene an einer Antriebsstörung, sind nur schwer zu motivieren. Nicht so Rene: Er ist aktiv, fängt nach seinem Unfall sogar wieder an zu arbeiten, zuletzt als Fahrer für ein Tiefkühlunternehmen. Doch sein Tatendrang hat auch Nachteile. Durch die Amnesie hat Rene das Gefühl für das richtige Maß verloren: Er stürzt sich oft in eine Aufgabe und arbeitet bis zur Erschöpfung. Bei dieser Überanstrengung bekommt er aber rasende Kopfschmerzen. Seinen Job verliert er, denn auch für andere wird sein Aktionismus zum Problem: Freunde, Kollegen und sogar Ärzte werfen ihm vor, er simuliere seinen Zustand nur. Wer so aktiv ist, könne keinen Hirnschaden haben. Mangelndes Expertenwissen über Amnesie – eine Situation, unter der viele der rund 100.000 Betroffenen in Deutschland leiden.
Es gibt nur wenige Anlaufstellen für Amnesie-Patienten und auch keine Standardtherapie. Denn genauso vielfältig wie die Erscheinungsformen sind die Auslöser für einen Gedächtnisverlust. Diese reichen von einem Schädelhirntrauma über Epilepsie, Hirnhautentzündung und Drogenmissbrauch bis hin zu psychischen Faktoren wie Stress oder ein traumatisches Erlebnis.
Das Gedächtnis – ein komplexes System
Erschwerend kommt hinzu, dass es bis dato keine einheitliche Theorie über die komplexe Funktionsweise des Gedächtnisses gibt – auch wenn Hirnforscher in den letzten Jahren viele Erkenntnisse hinzugewonnen haben. So wissen Neurologen heute, dass es nicht das eine Gedächtnis, sondern verschiedene Gedächtnisfunktionen gibt: Motorische Fähigkeiten, wie etwa Schuhe binden oder Radfahren, sind im sogenannten funktionalen Gedächtnis abgespeichert, Faktenwissen im prozeduralen Gedächtnis, biografische Erlebnisse wie die eigene Hochzeit im episodischen Gedächtnis. Diese Komplexität macht eine Diagnose und Behandlung schwierig.
Auch Rene hat schon zahlreiche Aufenthalte in Kliniken und Therapie-Einrichtungen hinter sich, an seinem Zustand hat sich nichts geändert. Das Team von W wie Wissen hat für ihn nun den Kontakt zu einer Münchner Spezialklinik hergestellt. Renes Hoffnung ist. endlich zu lernen, seine Kräfte besser einzuteilen. Sein größter Wunsch: "Eine Arbeitsstelle finden, bei der akzeptiert wird, dass ich leistungsfähig bin, aber dennoch Ruhepausen brauche."
Im Klinikum Bogenhausen in München trifft Rene auf Dr. J. Michael Hufnagl, Neurologe und Spezialist für Neuropsychologie. Dass es sich bei Rene s Amnesie um eine "vorgetäuschte Störung" handelt, wie in seiner Krankenakte vermerkt wurde, hält Hufnagl für eine "groteske Fehlinterpretation", herbeigeführt durch mangelnde Kenntnis der Materie.
Ein Zurück gibt es nicht
Der Scan von Renes Gehirn in einem neuen, leistungsstarken Magnetresonanztomografen macht seine Amnesie sichtbar: Der Hippocampus, eine für das Gedächtnis besonders wichtige Struktur, ist bei ihm verkleinert, das fehlende Hirnvolumen durch Nervenwasser aufgefüllt. Dr. Hufnagls Einschätzung fällt eindeutig aus: "Wir kommen in den Zustand vor dem Unfall nicht mehr zurück. Wir müssen mit dem auskommen, was das Hirn noch leisten kann." Doch der Neurologe ist sich sicher, dass Renes Zustand optimiert werden kann, mit einen stationären Aufenthalt in einer Fachklinik: Durch Tests und Gespräche mit Neuropsychologen soll Rene hier genau herausfinden, wo seine Stärken und Schwächen liegen und wann seine Leistungsgrenze erreicht ist. Wichtig ist dabei, sich nicht unter Druck zu setzen, indem man versucht, die Schwächen zu trainieren. Denn an diesen ist nichts zu ändern. Hier lautet das Stichwort "Substitution": Was nicht mehr da ist, wird ersetzt, die fehlende Gedächtnisleistung etwa durch ein Gedächtnisbuch, in das der Patient alle Termine einträgt.
Rene ist optimistisch: "Ich freue mich, dass man mir noch helfen kann, und dass ich mich noch steigern kann." Im Frühjahr 2011 will er für einen stationären Aufenthalt nach München zurückkehren. Ein langer Weg liegt vor ihm, doch der erste Schritt ist gemacht. 14 Jahre nach seinem Unfall.
Autorin: Julia Jaki (WDR)
Stand: 17.09.2015 13:39 Uhr