SENDETERMIN So., 04.03.12 | 17:00 Uhr | Das Erste

Die Kinder des Tsunami

Mitten beim Singen

Zerstörtes Schulgebäude
Von der Schule ist nur eine Ruine übrig geblieben. | Bild: SWR

Freitagnachmittag kurz vor Schulschluss: Der zehnjährige Soma singt gerade mit mehreren Mitschülern ein Lied - als plötzlich die Erde bebt: "Es hat seitlich gewackelt, ganz langsam", erinnert er sich. "Es waren keine schnellen, kleinen Bewegungen, sondern die Stöße kamen seitlich. Deswegen fühlte es sich auch so richtig riesig an."

Es ist tatsächlich ein gigantisches Erdbeben - mit einer Stärke von 9,0 - und es hat einen gewaltigen Tsunami zur Folge. Unter anderem zerstört die Welle Dutzende von Schulen. Alle Schulen evakuieren Schüler und Lehrer an höher gelegene Orte, nur eine nicht: Die Okawa-Grundschule. Sie liegt fast vier Kilometer von der Küste entfernt, am Kitagawa-Fluss.

Die Kinder verlieren ihre Freunde

Japanisches Mädchen
Die zehnjährige Fuka konnte sich nicht mehr von ihrer besten Freundin verabschieden. | Bild: SWR

Von etwas über 100 Schülern sterben 74. Zehn von elf anwesenden Lehrern kommen ebenfalls ums Leben. Die Trauer ist grenzenlos, die überlebenden Kinder müssen damit klarkommen, dass fast all ihre Freunde tot sind. In Somas Klasse waren beispielsweise 17 Schüler - nur vier haben die Katastrophe überlebt. Die letzten Minuten vor dem Unglück gehen auch seiner Zwillingsschwester Fuka nicht aus dem Kopf. Ihre Freundin Mano hatte an diesem Tag Geburtstag. "Mano war meine beste Freundin. Ich hatte versprochen, ihr mein Geburtstagsgeschenk nach der Basketballstunde zu geben. Tut mir leid, dass ich’s Dir nicht geben kann, sagte ich. Nicht so schlimm, hat sie gesagt. Ich habe ja nicht gedacht, dass ich sie nie wieder sehe. Deswegen habe ich mich nicht von ihr verabschiedet. Ich habe noch nicht einmal Tschüss gesagt."

Der Hügel hätte sie alle retten können

Zerstörtes Schulgelände mit Hügel hinterm Haus
Der Hügel hinter dem Haus hätte Schutz vor der Welle geboten. | Bild: SWR

Die beiden Kinder haben überlebt, weil ihre Mutter sie von der Schule abholte. "Ich wusste nur, dass ich sofort los musste. Ich habe das Haus einfach offen gelassen und bin in Pantoffeln mit dem Auto losgerast. Eine Menge Autos kamen mir entgegen. Es waren Leute, die in die entgegengesetzte Richtung flohen. Es gab kaum Autos, die in Richtung Schule fuhren. Sie liegt ja in Richtung Meer." Als Mika Sato an der Schule ankommt, stehen die Kinder versammelt auf dem Schulhof. Die Lehrer diskutieren, wo sie mit ihnen Schutz suchen sollen. "Sie haben über die Nachbeben gesprochen. Was reden sie da!? Der Tsunami kommt, vielleicht kommt er bis hierher, habe ich, glaube ich, gesagt. Ich war völlig außer mir." Denn direkt hinter der Schule liegt ein Berg, der optimalen Schutz geboten hätte. Den Naturlehrpfad am Hang kenne die Lehrer eigentlich gut. Doch nach dem Beben schicken sie die Schüler nicht hinauf, stattdessen sollten sich die Schüler auf dem Schulhof versammeln. Weil ihr Haus höher liegt als die Schule, verlässt Mika Sato mit ihren Kindern das Schulgelände und rettet somit den beiden Kindern das Leben.

Die Suche nach den Toten

Eine Frau legt Lebensmittel in ein Regalfach
Lebensmittel im Regalfach der Tochter sollen helfen, dass sie schnell gefunden wird. | Bild: SWR

Naomi HiratsukasTochter wurde nach dem Tsunami lange vermisst. Die Mutter wusste zwar genau, dass Koharu nicht überlebt haben konnte. Doch ohne den Körper der Tochter kam sie nicht zur Ruhe. Deshalb kam sie lange Zeit täglich zur Schule und legte Essen in das alte Regalfach, in dem früher ihre Tochter die Schulsachen aufbewahrt hatte. Ein altes Ritual: "Mir ist gesagt worden, dass, wenn ich Essen an bestimmte Plätze meiner Tochter stelle, ihre Leiche schneller gefunden wird." Sie steht vor dem Fach mit den Lebensmitteln und betet. Doch aufs Beten allein wollte sich Naomi nicht verlassen. Sie hat Bagger fahren gelernt und seit dem Tsunami mit anderen Eltern täglich nach den Überresten ihrer vermissten Kinder gegraben. Insgesamt sechs Monate lang - vergeblich. Naomis Suche nach Koharu endete erst, als Fischer das Mädchen sechs Monate nach dem Tsunami entdeckten - im Wasser treibend, kilometerweit von der Schule entfernt. "Unsere Tochter wurde ohne Kopf gefunden", erzählt Naomi unter Tränen. "Auch Teile ihres Körpers, ihre Arme und ihre Beine fehlten. Deswegen glauben wir, dass sie von ziemlich weit her angetrieben wurde." Obwohl Koharu nun gefunden ist, gräbt Naomi weiter. "Die Tatsache, dass vier Kinder immer noch vermisst werden, bedeutet für mich, dass die Suche noch nicht zu Ende ist."

Fotos werden zu Schätzen

Ein Kind hält zwei Klassenbilder in der Hand
Fotos werden zu wertvollen Erinnerungen an gute Zeiten. | Bild: SWR

Vielen Eltern und Kindern bleiben nur Erinnerungsstücke und Fotos aus der Zeit, als noch alles ist Ordnung war. Das ist alles, woran sich die Hinterbliebenen noch festhalten können. Die neunjährige Shiori hat zum Beispiel fast all ihre Klassenkameraden verloren. Da werden einfache Gegenstände wie ein Haarband zu einem unglaublich wertvollen Schatz: "Das habe ich von meiner Freundin bekommen. Aber die Fotos sind am wichtigsten für mich. Sie sind für alle wichtig, deswegen passe ich gut auf sie auf."

Mit ihrer Trauer gehen die Kinder ganz unterschiedlich um, jedes auf seine Art. Fuka, die ihre Freundin Mano verloren hat, fühlt beim Gedanken an die Katastrophe Wut und Trauer. "Wenn ich an Mano denke, muss ich weinen. Warum hat es dieses Erdbeben bloß gegeben? Ich wünschte, die Natur wäre nicht so." Ihr Bruder Soma sieht das anders: "Ich bin nicht wütend. Manchmal hilft dir die Natur, manchmal schadet sie dir. Das lässt sich nun einmal nicht ändern." Und obwohl er erst zehn Jahre alt ist, weiß er jetzt schon ziemlich genau, was er später einmal beruflich machen möchte: "Ich will eine Arbeit, bei der ich anderen helfen kann. Ich bin gerettet worden. Deswegen möchte ich andere retten."

Autoren: Dan Reed, Sarah Weiss (SWR)

Stand: 05.10.2016 16:00 Uhr

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