So., 22.04.12 | 17:00 Uhr
Das Erste
Fassaden vergiften Flüsse
Neue Giftquelle
Pestizide finden sich nahezu überall - in Flüssen, Lebensmitteln und sogar im Gletschereis der Arktis. Die Bedrohung von Ökosystemen und Gesundheit durch die chemischen Spritzmittel ist allgemein anerkannt. Als Verursacher der Belastung gelten gemeinhin Landwirte, die die chemische Keule in der Vergangenheit sehr großzügig und nicht immer sachgemäß eingesetzt haben. Inzwischen wurde dieser Einsatz klar reglementiert. Doch seit einigen Jahrzehnten gibt es eine neue Quelle für Pestizide, die bislang kaum beachtet wurde: Hausfassaden. Bundesweit werden jährlich Hunderttausende Häuser mit dicken Dämmplatten energetisch saniert. Sie lassen kaum Wärme aus den Innenräumen entweichen und sollen dazu beitragen, Heizkosten zu sparen. Anders als massive Mauersteine können sie aber auch keine Sonnenwärme aufnehmen und speichern.
Algen und Schimmel auf Wärmedämmung
Die Folge ist, dass die Außenfassaden gedämmter Häuser vor allem nachts viel kühler und damit auch feuchter sind, da sich auf ihnen wegen der niedrigen Außentemperatur mehr Tauwasser niederschlägt. Das sind ideale Bedingungen für Algen und Schimmelpilze, die oft schon nach wenigen Jahren auftauchen. Fortan werden die betroffenen Fassaden von Jahr zu Jahr grüner. Oder auch grau, denn wo Algen wachsen, gedeihen auch Schimmelpilze. An manchen Häusern breiten sich gar bunte Biotope mit unterschiedlichsten Algen- und Schimmelarten aus. Das Problem: Beim Lüften können Pilzsporen in die Wohnung gelangen. Die möglichen Folgen für die Gesundheit der Bewohner sind noch nicht erforscht. Für Hauseigentümer ist die Verfärbung auch ein ästhetisches Problem, denn grüne oder schwarze Fassaden vermitteln den Eindruck von Sanierungsstau und schrecken potenzielle Mieter oder Käufer ab. Als Gegenmaßnahme setzt die Bauindustrie seit langem auf Chemie: Die meisten Farben und Kunstharzputze für Dämmfassaden enthalten "Biozide", also Mittel, die im Wortsinn "Leben töten". Die Gifte gegen den mikrobiellen Bewuchs sollen dafür sorgen, dass eine weiß gestrichene Fassade dauerhaft weiß bleibt.
Von der Fassade ins Wasser
Doch wer mit offenen Augen durch die Ortschaften geht, stellt fest, dass viele gedämmte Häuser nach einigen Jahren dennoch schäbig aussehen. Helmuth Venzmer von der Fachhochschule Wismar hat in einem Forschungsprojekt festgestellt, dass mehr als 75 Prozent aller gedämmten Fassaden von Algen-, Moos- oder Pilzbefall betroffen sind. Daran ändert offenbar auch der massive Einsatz von Bioziden nichts. Denn die Gifte bleiben nicht in den Fassaden, wie schweizerische Wissenschaftler herausgefunden haben. Die Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (EAWAG) nahm sich früh des Themas an. "Erste Verbrauchserhebungen zeigten schon in den 90er-Jahren, dass die in Fassaden eingesetzte Menge an Bioziden ähnlich hoch ist wie die in der Landwirtschaft", weiß Irene Wittmer von der EAWAG, "man hat sich dann gefragt, ob die Substanzen auch in den Gewässern auftauchen." 2005 konnten die schweizerischen Forscher dann nachweisen, dass vor allem kleine Gewässer stark durch Biozide aus Fassaden belastet sein können.
Hohe Gewässerbelastung
"Biozide sind wasserlösliche Substanzen", sagt Michael Burkardt von der Hochschule für Technik in Rapperswil. "Regen und Tauwasser machen die Fassaden feucht und durch diese Feuchte werden die Biozide an die Oberfläche transportiert und mit dem nachfolgenden Regen abgewaschen. Das ist eigentlich auch gewünscht, dass die Biozide an die Oberfläche gelangen." Denn nur dort können sie wirken, also Algen und Pilze abtöten. Es wird also ganz bewusst in Kauf genommen, dass die Gifte mit dem Regenwasser in die Umwelt gelangen. Burkhardt hat an wärmegedämmten Wohngebäuden Auffangvorrichtungen für das abfließende Regenwasser installiert und kann anhand des Biozid-Gehalts die Intensität der Auswaschung bestimmen. In einem neu erstellten Gebäude liegen die im Fassadenabfluss gemessenen Biozid-Konzentrationen um den Faktor 1.000 höher als bei einem vier Jahre alten Haus. Es dauert circa fünf Jahre, bis fast alle Pilz- und Algenkiller aus der Fassade heraus sind. Danach werden die Putzoberflächen trotzdem grün oder schwarz - aber dann ist die Gewährleistungsfrist verstrichen.
Gifteinsatz im Namen der Nachhaltigkeit
Das ist auch peinlich für die Hersteller der Pilzgifte und deren Kunden, die Bauindustrie. Burkhardt forscht daran, wie sich die Auswaschung der Gifte verzögern ließe. Grundsätzlich aber stellt er den Einsatz von Bioziden an Fassaden nicht in Frage: "Biozide sind Materialschutzmittel und Materialien sind wertvoll, insofern sagen viele Hersteller, es ist auch ein Teil der Nachhaltigkeit." Zumindest für Gewässer ist dies sicher nicht nachhaltig. Die Umweltforscherin Irene Wittmer von der EAWAG hat festgestellt, dass vor allem kleine Bäche zeitweise hoch mit Bioziden aus Fassaden belastet sind. Die Forscher finden Dutzende verschiedener Substanzen.
Verbotene Gifte kehren zurück
Nachgewiesen werden auch Gifte, die für Bauern aus gutem Grund längst verboten sind, wie etwa das Nervengift Terbutryn. Als Schutzmittel für Mauerwerk kommt es häufig zum Einsatz. Die Folge: Auch an deutschen Kläranlagenabflüssen wurden überhöhte Werte gemessen. Sogar das stark gewässergefährdende Mittel Diuron taucht wieder in hohen Konzentrationen in Gewässern auf. Die Deutsche Bahn nutzte Diuron bis 1996, um ihre Gleisanlagen von Unkraut frei zu halten. Während dies längst verboten ist, wird es nach wie vor als "Materialschutzmittel" am Bau eingesetzt. Fest steht: Die einzelnen Substanzen sind giftig. Unklar ist bisher, welche Folgen sie in der Summe haben. "Man weiß für einzelne Substanzen, dass die gefundenen Konzentrationen in einen bedenklichen Bereich kommen", sagt Irene Wittmer. "Man weiß aber noch sehr wenig, was für Auswirkungen das im Gewässer hat, vor allem auch wie die Organismen auf diesen ganzen Cocktail aus Substanzen reagieren, den wir da aus der Siedlung entlassen."
Umweltschutz paradox
Wärmedämmung soll Ressourcen und damit das Klima, also letztendlich die Umwelt schonen. Doch der Biozideinsatz an Dämmfassaden belastet gleichzeitig Oberflächengewässer und gefährdet deren Ökosysteme. Da der "Materialschutz" ohnehin nicht dauerhaft ist, stellt sich die Frage, wie sinnvoll eine Behandlung der Fassaden mit Bioziden überhaupt ist. Für den ausführenden Maler gibt es kaum eine Alternative, will er Gewährleistungsansprüche des Hauseigentümers vermeiden. Der Gesetzgeber schreibt zwar die Wärmedämmung vor, hält sich aber bei deren Folgen für die Gewässer vornehm zurück. Biozid-Produkte sind in Europa seit 2003 zulassungspflichtig, doch das EU-Wirkstoffverfahren für die entsprechenden Produkte ist noch nicht abgeschlossen. In Deutschland gibt es bisher nicht mal systematische Untersuchungen zum Biozideinsatz am Bau und dessen Auswirkungen auf Boden und Wasser.
Alternativen beim Neubau
Abhilfe ist schwierig, denn ein Wärmedämmverbundsystem führt physikalisch zwingend zu mehr Tauwasser auf der Fassade. Konstruktive Lösungen wie etwa ein größerer Dachüberstand können die Auswaschung vermindern, aber nicht völlig verhindern. Eine Möglichkeit wäre der Verzicht auf biozidhaltigen Kunstharzputz und der Einsatz eines mineralischen Putzes ohne Gift. Allerdings kommt es dann auch zur Algenbesiedlung. Experimentiert wird auch mit hydrophilen Putzen mit einer höheren Wasseraufnahmefähigkeit. Zumindest beim Neubau gibt es Alternativen wie etwa ein zweischaliges Mauerwerk mit einer Kerndämmung. Die Außenwand besteht hierbei typischerweise aus Ziegel, der Sonnenwärme aufnehmen und speichern kann. Allerdings ist eine solche Lösung teurer als die meist eingesetzten Wärmedämmverbundsysteme, bei denen Polystyrolplatten auf das Mauerwerk geklebt und anschließend verputzt werden. Langfristig können sich die Mehrkosten jedoch rechnen, da vermutlich seltener ein Gerüst gestellt und neu gestrichen werden muss.
Autor: Güven Purtul (NDR)
Stand: 28.01.2015 15:08 Uhr