So., 19.02.12 | 17:00 Uhr
Das Erste
Haare als Ware
Problem bei Männern und Frauen
Beim einen passiert es früher, beim anderen später. Und wer ganz viel Glück und die richtigen Gene besitzt, hat bis zum Schluss noch alle Haare auf dem Kopf. Haarausfall bei Männern ist gesellschaftlich akzeptiert. Trotzdem: Wenn das starke Geschlecht seine Haare verliert und nur noch ein Kranz das Haupt bedeckt, guckt nicht mehr jeder Mann gerne in den Spiegel. Und bei niedrigen Temperaturen ohne Kopfbedeckung rauszugehen, ist auch kein Vergnügen. Nicht wenige Männer entscheiden sich deshalb für ein Haarteil. Noch viel mehr Verständnis für den Wunsch nach einer Perücke erfahren aber Frauen. Wenn ihnen die Haare ausgehen und an den schütteren Stellen die Kopfhaut durchscheint, trauen sich viele Frauen nicht mehr aus dem Haus.
Wenn es "oben" friert
"Ich leide sehr darunter. Es ist so, als ob die Menschen nichts anderes sehen würden als meine kahle Stelle da oben, wo die Haare dünn sind. Ich bilde mir ein, die nehmen mich gar nicht richtig wahr, sondern nur die Haare", das erzählt eine betroffene Frau, die sich deswegen kaum noch unter Leute traut. Die schütteren Stellen möchte sie am liebsten verdecken. Auch für das männliche Ego ist ein kahler Kopf nicht unbedingt prickelnd. Doch wessen Haare trägt man da eigentlich auf dem Kopf, wenn man sich mit fremden Haaren schmücken will? Diese Frage bringt uns einmal um den Globus.
Indien: Die Quelle der Haare
Das Haar für Perücken, die in Europa verkauft werden, kommt meistens aus Indien. Hier herrscht "Haarüberfluss". Kaum Kurzhaarfrisuren, lange Zöpfe, wohin das Auge sieht. Es ist das reinste Paradies für den Haarhandel. Außerdem sind die Haare hier nicht mit chemischen Mitteln gefärbt, die Frauen behandeln es nur mit Kokosöl. "Virgin Hair" nennt es die Branche, also jungfräuliches Haar - begehrt in Europa und Amerika.
Aus der Pilgerstadt Tirupati kommen die meisten Haare. Die Menschen hier verkaufen ihr Haar nicht. Sie opfern es in einem Tempel für den Gott Shri Venkateshwara. Der Pilgerort lockt jeden Tag 50.000 Besucher an. Mit dem Scheren ihres Hauptes legen die Gläubigen nicht nur ihr Haar, sondern auch ihre Sünden ab. Viele opfern ihr Haar auch aus Dank für die Hilfe des Gottes, wenn zum Beispiel eine Krankheit besiegt wurde.
Tonnenweise Haare
Mindestens 20 Zentimeter langes Haar - davon fällt im indischen Tempel von Tirupati täglich eine Tonne an. Der Tempel verkauft es für einen guten Zweck weiter an Haarhändler. Sie säubern das Haar und bringen es auf eine Länge.
So verarbeitet kommt das Haar nach Deutschland - zum Beispiel zur Firma Kerling in Backnang in der Nähe von Stuttgart. Eine Lieferung aus Indien hat leicht den Gegenwert eines mittleren Neuwagens.
Dunkel mit roten Strähnen soll das neue Haarteil für eine Frau werden. Dafür werden die Haare aus Indien erst entfärbt und dann nach Wunsch eingefärbt. Auch die Strähnen in blonden Perücken sind also irgendwann einmal schwarz gewesen. Und egal, ob es Haarteile für Männer oder Frauen sind: "Spender" waren in der Regel Frauen.
Maßarbeit in Deutschland
Für Perücken und Toupets fertigen die Mitarbeiter in Deutschland die so genannte "Montur" - das ist der Unterbau, auf den die Haare geknüpft werden. Damit der später richtig sitzt, müssen die Kunden zuvor Modell stehen. Viel Know-how ist für diese Qualitätsarbeit gefragt. Denn auch davon hängt ab, ob man später überhaupt erkennt, ob ein Mensch ein Haarteil trägt. "Sie sehen ja im Prinzip immer nur die schlechten Toupets, die schlechten Perücken", erklärt Florian Schmidt-Andre von Kerling International. "Wir erkennen sie, auch als Laie erkennen Sie die. Und da sagen Sie: Hoppla, wie sieht denn der aus? Aber die vielen guten sehen Sie ja nicht. So muss es sein."
In Deutschland säße eine Arbeiterin am Einknüpfen der Haare in die Montur zwei Wochen. Unbezahlbar. Schon so muss man für Qualitätsware tief in die Tasche greifen - 800 bis 1.000 Euro pro Perücke ist man los. Das Einknüpfen der Haare findet deshalb nicht in Deutschland statt.
Weiterverarbeitung in China
Haare und Montur gehen zur Weiterverarbeitung oft nach China. Hier sind die Löhne niedriger, eine Arbeiterin in einer Firma in Shenzen verdient etwa 100 Euro im Monat. Dafür knüpfen die Frauen jedes Haar einzeln in die Vorlage. Bis zu Hunderttausend Knoten hat eine Perücke - so viele Haare hat der Mensch auf dem Kopf. Sieben Tage braucht eine geübte Näherin für eine Perücke.
Mit Nadel und Faden
Wenn die Haarteile zurück nach Deutschland kommen, müssen sie am Kopf des Kunden noch angepasst werden. Je nach Modell kann das anders sein. Bei einem Haarteil ohne Montur werden die Fremdhaare zum Beispiel mit Nadel und Faden in den eigenen Haaren des Kunden verwebt, die er noch auf dem Kopf hat. In diesem Fall muss der Kunde allerdings alle paar Wochen zur Haarwerkstatt kommen, damit das Haarteil neu verknüpft wird. Schließlich wachsen die eigenen Haare ja noch und das Haarteil wird so locker. Bei Perücken mit Montur ist das neue Haar noch zu lang. Auf dem Kopf des Kunden wird die Perücke dann "zurechtgestutzt". Eine Frisur, passend zum Gesicht und Geschmack des Kunden, ist so möglich. Eigentlich sind Perücke und Haarteile "nur" fremde Haare auf dem Kopf. Aber für viele Menschen beginnt damit ein neues Leben.
Autoren: Tilman Achtnich, Sarah Weiss (SWR)
Stand: 18.09.2015 14:36 Uhr