So., 29.04.12 | 17:00 Uhr
Das Erste
Jüdisches Leben im Mittelalter
Spatenstich ins Mittelalter
Egal, wo man in der Kölner Innenstadt den Spaten ansetzt, man stößt unweigerlich auf Geschichte. Keine andere deutsche Stadt hat eine so reiche Vergangenheit wie die 2.000 Jahre alte Domstadt am Rhein, die einst von den Römern gegründet wurde. Eine besonders glanzvolle Periode der Stadtgeschichte ist das Mittelalter. Köln war ein international bedeutendes Handelszentrum und im Hochmittelalter sogar größer als Paris oder London. Was aber heute nur wenige wissen: Köln war im Mittelalter auch Heimat der ältesten und bedeutendsten jüdischen Gemeinde nördlich der Alpen - bis sie im Jahr 1349 durch ein furchtbares Verbrechen ausgelöscht wurde. Heute wird das jüdische Viertel Kölns in einem spektakulären archäologischen Projekt wieder ausgegraben. Und die katastrophalen Bedingungen seines Untergangs erweisen sich heute als archäologischer Glücksfall.
Die jüdische Gemeinde Kölns
Auf Besucher muss die Stadt Köln im Jahr 1349 einen imposanten Eindruck gemacht haben. Umschlossen von einer acht Kilometer langen Mauer, zwischen Hunderten von Kirchen, Klöstern und Palästen lebten zu dieser Zeit zwischen 45.000 und 50.000 Menschen in der Domstadt. Damit ist Köln zu dieser Zeit die mit Abstand größte Stadt Deutschlands und eine der größten Europas. Und sie ist Heimat der ältesten jüdischen Gemeinde nördlich der Alpen. Die ältesten Zeugnisse stammen aus dem 4. Jahrhundert. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts leben die Juden bereits in einem eigenen Viertel, zwischen Dom und Rathaus, mitten im Herzen der Stadt. Das Viertel ist seit einigen Jahrzehnten mit einer Mauer umschlossen, aber es ist kein Ghetto, die Juden sind hier die Hausherren. Das jüdische Viertel ist ein viel besuchtes Geschäftsviertel, hier gibt es Kaufleute, Bankiers, Einkaufsläden. Knapp 1.000 Menschen leben im Viertel, deren Zentrum die Synagoge ist.
Die Katastrophe: Das Pest-Pogrom von 1349
Seit fast einem Jahrtausend sind die Juden fester Bestandteil des Stadtlebens. Trotzdem kommt es im August 1349 zur Katastrophe. Seit Monaten grassiert in Europa die schlimmste Pestepidemie aller Zeiten, ganze Landstriche sind schon entvölkert. Köln ist noch verschont geblieben, aber einmal mehr werden alte Ressentiments wach: Es verbreitet sich das Gerücht, die Juden hätten die Brunnen vergiftet. Die Juden stehen unter dem Schutz von Stadt, Erzbischof und König. Aber das alles hilft nichts: In der Nacht vom 23. August stürmt ein aufgeheizter Mob das Viertel, plündert, brennt und mordet. Das jüdische Viertel Kölns wird dem Erdboden gleich gemacht, kaum einer der Einwohner überlebt das Inferno. Dreißig Jahre später wird ein Teil des Viertels wieder aufgebaut, bis dann 1424 die Juden für "ewige Zeiten" aus der Stadt gewiesen werden. Erst im 19. Jahrhundert wird es danach wieder Juden in Köln geben.
Kloaken als Schatzkammern
Nur wenig Sichtbares ist vom größten und bedeutendsten jüdischen Viertel Deutschlands im Mittelalter erhalten geblieben. Einzige Ausnahme ist die "Mikwe", das rituelle Bad, ein mehrere Meter tiefer Schacht, der den Grundwasserspiegel berührt. Doch seit 2010 wird der zentrale Bereich des jüdischen Viertels rund die Synagoge im Rahmen der "Archäologischen Zone" wieder ausgegraben. Die Zerstörung des Viertels im katastrophalen Pest-Pogrom von 1349 sorgt dabei für einzigartige archäologische Bedingungen. Nach der Pogromnacht hatte man den Schutt der Brandnacht eilig, teilweise noch schwelend, in Hohlräume gefüllt, vor allem in die metertiefen Kloaken des Viertels. In ihnen ist das Leben unmittelbar vor dem Pogrom wie in einer Zeitkapsel eingefangen. Einzigartige Momentaufnahmen vom Alltagsleben dieser Zeit in Köln werden so möglich. Die Kloaken erweisen sich als wahre Schatzkammern. In ihnen haben die Ausgräber eine Vielzahl von Gegenständen gefunden: Hausrat, Mobiliar, Geschirr, Schmuck, sogar Gewebereste von Kleidung und Kinderspielzeug.
Schmierpapier des Mittelalters
Ein Fund der Archäologen sticht besonders heraus: Bei den Grabungen stießen sie auf Hunderte von Schiefertäfelchen. Zunächst hält man sie für Reste der mittelalterlichen Dachbedeckung. Doch dann entdecken die Wissenschaftler auf einigen Tafeln winzige, eingeritzte hebräische Schriftzeichen. Der Inhalt ist ganz unterschiedlich: Abrechnungslisten, Kritzeleien, Schreibübungen. Offensichtlich handelt es sich um eine Art mittelalterliches Schmierpapier. Noch nie wurde etwas Vergleichbares gefunden. Andere Funde deuten darauf hin, dass im Obergeschoss der Synagoge eine Familie wohnte. Die Untersuchung von Essensresten und gefundenem Unterrrichts-Material deuten darauf hin, dass es sich um die Familie des Oberrabbiner handelte und dass es organisierten Schulunterricht gab, was für diese Zeit im christlichen Umfeld noch nicht der Fall war. Nachdem sie fast 700 Jahre lang verschüttet waren, kommen dank der beindruckenden Arbeit der Archäologen die Spuren der ältesten und bedeutendsten jüdischen Gemeinde in Deutschland endlich wieder ans Tageslicht.
Autor: Jakob Kneser (WDR)
Stand: 06.11.2015 13:50 Uhr