Interview mit Wolfgang Sielaff, ehemaliger LKA-Chef in Hamburg
"Das Geheimnis des Totenwaldes" ist angelehnt an die Geschichte, die Ihrer Familie widerfahren ist. Welcher Aspekt war für Sie wichtig?
Ich habe mich entschlossen, diesen Weg der Verfilmung mitzugehen, weil endlich einmal auch von den Verbrechensopfern erzählt wird. Angehörige und Hinterbliebene sind auch Opfer! Wenn ein schweres Verbrechen in eine Familie einschlägt, dann gerät das ganze Leben aus den Fugen. Meine Schwester verschwand, aber die Polizei fand weder die Leiche noch den Täter. Wir als Familie konnten uns nicht mit dem offenkundigen Verbrechen auseinandersetzen und es verarbeiten. Meine Mutter hat 20 Jahre lang gehofft, dass sich die Tür öffnet und ihre Tochter hereinkommt. Sie hat in ihrer Verzweiflung zwei Suizidversuche unternommen. Die Tochter meiner verschwundenen Schwester leidet bis heute schwer, auch, weil ihr Vater verdächtigt wurde. Das war eine schlimme Zeit der Ungewissheit für uns alle.
Sie waren damals der LKA- Chef in Hamburg. Konnten Sie denn keinen Einfluss auf die Ermittlungen nehmen?
Als Leiter des LKA habe ich keinen unmittelbaren Einfluss auf die Ermittlungen in einem anderen Bundesland. Ich hatte anfangs keinen Zweifel, dass die Lüneburger Staatsanwaltschaft und Polizei eine vernünftige Arbeit macht. Ich nahm an, dass man sich auch aus Kollegialität Mühe bei den Ermittlungen geben wird. Das geschah aber nicht!
Was waren die gravierendsten Fehler bei den Ermittlungen?
Die Ermittler haben sich sehr schnell auf meinen Schwager als Tatverdächtigen festgelegt. Dabei geriet schon nach sechs Wochen der Mörder meiner Schwester, Kurt- Werner Wichmann, in den Fokus. Es war bekanntgeworden, dass er zu meiner Schwester kurz vor deren Verschwinden unter einem Vorwand Kontakt aufgenommen hatte. Wichmanns Lebensweg war gepflastert mit kriminellen Taten, u. a. hatte er mehrere Jahre wegen Vergewaltigung im Gefängnis gesessen. Bei der polizeilichen Vernehmung log er und verwickelte sich in Widersprüche. Jeder qualifizierte Kriminalist hätte da Verdacht geschöpft. Die Verdachtslage hätte eine Durchsuchung bei Wichmann geradezu auslösen müssen. Aber nichts geschah, Wichmann wurde nicht behelligt. Hätte man entsprechend gehandelt, wäre meine Schwester schon wenige Wochen nach ihrem Verschwinden gefunden und Wichmann als Tatverdächtiger festgenommen worden. Das hätte uns ein Vierteljahrhundert an Ungewissheit, Kummer und Verzweiflung erspart. In "Das Geheimnis des Totenwaldes" wird gut dargestellt, was weiter passierte. Der Staatsanwalt war völlig desinteressiert. Er weigerte sich, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, obwohl es längst den Verdacht auf eine Straftat gab.
Dreieinhalb Jahre später wurden Wichmanns Haus und Grundstück endlich durchsucht…
Ja, aber Wichmann war von der Polizei vorher darüber informiert worden und floh. Schnell war klar, warum. In einem geheimen Zimmer, quasi einem Pharaonengrab, wurden Waffen, Munition, Ketten, Kanülen und Beruhigungsmittel gefunden. An einer Handschelle befand sich eine Blutanhaftung. Im Garten fand man ein vergrabenes Auto, das offensichtlich für ein Verbrechen benutzt worden war. Bei der Polizei schrillten die Alarmglocken.
Der mutmaßliche Täter erhängte sich in seiner Zelle. Ein Rechtsgrundsatz ist: Gegen Tote darf nicht ermittelt werden. War das gerechtfertigt?
Ja, nach Wichmanns Suizid durfte nicht mehr gegen ihn ermitteln werden. Dennoch war die Einstellung des Verfahrens falsch, weil es Indizien auf einen Mittäter gab. Die Ermittlungen hätten gegen diesen schon damals fortgeführt werden müssen. Von der Einstellung des Verfahrens erfuhr ich aber erst zehn Jahre später.
Daraufhin sind Sie initiativ geworden. Warum?
Kurz nach meiner Pensionierung, 2003, habe ich bei der Staatsanwaltschaft Lüneburg Akteneinsicht erhalten und war erschüttert: Ich musste zur Kenntnis nehmen, dass überhaupt keine Ermittlungen zum Verschwinden meiner Schwester mehr erfolgt waren. Außerdem wurde mir mitgeteilt, dass alle Beweismittel vernichtet worden waren. Ein schwerer Fehler! Für mich war klar, ich musste alles daran setzen, das Schicksal meiner Schwester zu klären. Ich gewann Weggefährten, die mich dabei unterstützt haben. Unser Ziel war es, Indizien und Fakten zusammenzutragen, die die Lüneburger Polizei und Staatsanwaltschaft zwingen, neue Ermittlungen aufzunehmen. Dabei stellten sich zunehmend auch Fragen über mögliche Zusammenhänge mit Tötungsdelikten an Frauen und Mädchen in der Region Lüneburg und zu den Göhrde-Morden von 1989. Im Zentrum unseres Interesses stand Wichmann.
Sehen Sie in "Das Geheimnis des Totenwaldes" Parallelen zu dem realen Fall?
Es ist ja ein fiktionaler Film mit vielen gewollten Abweichungen zu den realen Ereignissen. Aber das Kerngeschehen wird durchaus richtig widergespiegelt. Die Handlungsstränge sind sehr spannend erzählt. Der Film wird bestimmt Aufsehen erregen, nicht zuletzt wegen der hervorragenden Schauspieler. Matthias Brandt agiert allerdings als LKA-Chef im Film anders als ich. Ich selbst bin viel aktiver, beharrlicher und überhaupt nicht resignativ gewesen.
Ist es Ihrer Hartnäckigkeit zu verdanken, dass endlich das Geheimnis des "Totenwaldes" gelüftet werden konnte?
Wir haben zumindest den Weg zur Aufklärung bereitet. Wir waren überzeugt, dass es einen Täter-Zusammenhang zwischen den Göhrde-Morden und dem Verschwinden meiner Schwester gibt. Das hat sich bewahrheitet. Die zwei Hauptindizien: Erstens, Wichmanns DNA wurde im Auto eines in der Göhrde ermordeten Paares gefunden. Zweitens, wir haben meine ermordete Schwester in Wichmanns Garage entdeckt.
Ist Ihr Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert?
Nein, das ginge zu weit. Es hat damals allerdings ein großes Versagen von Polizei und Staatsanwaltschaft gegeben. Ein derartiges Maß an Desinteresse, Unterlassungen, Versäumnissen und Fehlentscheidungen ist mir noch nicht untergekommen. Fehlerkultur oder Selbstkritik? Fehlanzeige. Man kann sich bis heute nicht einmal entschließen, meinen Schwager, der ein Vierteljahrhundert lang als Mörder gebrandmarkt war, öffentlich zu rehabilitieren.