Interview mit Autor Stefan Kolditz
Wie haben Sie für diese wahren Begebenheiten eine fiktionale Form gefunden?
Der reale Fall hat mich regelrecht erschüttert und wegen seiner Komplexität gereizt. Es geht um einen unglaublich erscheinenden Polizei- und Justizskandal und eine Familie, die an dem unaufgeklärten Verbrechen fast zerbricht. Wir wollten auf keinen Fall diese Verbrechen nur nacherzählen oder illustrieren. Denn das bedeutet immer, dass die empathische Wahrnehmung hinter dem Faktischen zurücktritt. Nur die Freiheit der Erzählung ermöglicht es, tief in die Schicksale und Abgründe der Menschen einzutauchen und das Allgemeingültige hinter dem Drama zu erzählen.
Haben Sie Gespräche mit den Betroffenen geführt?
Der ehemalige Hamburger LKA-Chef Wolfgang Sielaff hat nach seiner Pensionierung ein hochkarätiges Team von Menschen zusammengebracht, die ihm helfen sollten, das Verschwinden seiner Schwester aufzuklären. Dazu gehörten u. a. die Polizeipsychologin Claudia Brockmann sowie Reinhard Chedor, Sielaffs Nachfolger beim LKA. Die Gespräche mit ihnen allen waren für die Buchentwicklung enorm wichtig. Ihre Lebensgeschichten, aber auch die des Täters haben mich bei der Entwicklung meiner fiktionalen Figuren inspiriert. Daraus musste ich dann aber eigenständige Charaktere formen. Den komplizierten Prozess der Fiktionalisierung hätte ich ohne die dramaturgische Mitarbeit von Katja Wenzel vielleicht sogar abgebrochen, weil es eine der kompliziertesten Arbeiten in meiner Tätigkeit als Drehbuchautor wurde.
Worin bestand die besondere Herausforderung?
In der Stofffülle! Wie erzählt man eine Geschichte, die sich im Kern über einen Zeitraum von 30 Jahren erstreckt, aber dahinter noch viel weiter geht? Eine Frau verschwindet, gleichzeitig gibt es zwei grausame Paar-Morde, und die Zusammenhänge werden immer größer, komplexer und bedrückender. Wir erzählen das Versagen der Polizei, eine junge Ermittlerin, die beginnt, sich über diesen Fall zu emanzipieren, eine große emotionale Familiengeschichte. Mich hat interessiert, einen packenden Kriminalfall zu erzählen, der viele dramatische Wendungen nimmt, und gleichzeitig das oft übersehene Leid der Hinterbliebenen.
Welche Rolle spielt die Nachkriegszeit in dem Dreiteiler?
In der Geschichte gibt es einen fast unsichtbaren Unterbau: die Dualität zwischen dem Polizisten Bethge und dem Serienmörder Becker. Beide kommen aus einer Zeit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs und erleben dort ihre Sozialisation. Der unter Verdacht stehende Jürgen Becker ist ganz klar nationalsozialistisch erzogen worden. Zwei Menschen, die verbunden sind über ein Verbrechen und die unterschiedlicher nicht sein könnten und die beide einen Teil von dieser Bundesrepublik repräsentieren. Der eine, der dezidiert eine demokratische und empathische Haltung einnimmt, und der andere, der seine narzisstischen und sadistischen Impulse auslebt. Einer, der sich sehr stark an seine Regeln hält, weil das Teil seiner Aufgabe und seines Ethos ist, und der andere, der die Regeln permanent bricht. Der Film appelliert eben auch an den Zuschauer, nicht nur einen Krimi zu sehen, sondern sich auch über die Handlungsoptionen, die jeder hat, klarzuwerden.
"Das Geheimnis des Totenwaldes" erzählt auch von unfassbaren Ermittlungsfehlern. Was steckt dahinter?
Natürlich bewegt uns dieser Justiz- und Polizeiskandal, denn er erschüttert unseren Glauben an die rechtsstaatlichen Institutionen. Aber in dem Fall haben wir es mit einem massiven Versagen von Polizei und Justiz in Lüneburg zu tun. Bethge als Ermittler definiert ein so hohes Ethos für seine Arbeit, dass er davon ausgeht, dass dieses Ethos bei der Polizei allgemeingültig ist. Das hindert ihn lange Zeit zu erkennen, dass die ermittelnde Polizei seine hohen Maßstäbe nicht teilt. Sicher war sie auch überfordert, aber ich glaube, einer der Hauptpunkte dieses Skandals besteht in der Unfähigkeit, sich selbst kritisch in Frage zu stellen und empathisch zu handeln.
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