"Ungeschönte Ambivalenz"
Interview mit Devid Striesow
Herr Striesow, Sie spielen in diesem Film einen fürsorglichen verheirateten Familienvater, einen engagierten Medienpädagogen mit verborgenen pädophilen Neigungen – war es die Ambivalenz dieser Figur, die Sie reizte, diese Rolle anzunehmen?
Das Furchtbare an dieser Figur sind ja die, von außen gesehen, gleichwertig nebeneinander existierenden Persönlichkeiten. Jede bis zur Perfektion betrieben, um eben in einer Seite nicht erkannt zu werden: dem realen pädophilen Verlangen.
Das erfordert von der Figur in jedem Moment höchste Konzentration. Nichts ist zufällig, alles wird abgewogen und bewusst und zielgerichtet eingesetzt. Jedes Gegenüber kann in einem Moment der Partner, im nächsten der Todfeind sein, wenn es darum geht, entlarvt oder vielleicht nur im Tun behindert zu werden.
Und genau diese Spannung und Konzentration durch Ambivalenz ist für mich sehr reizvoll, weil man dem Zuschauer jede dieser Seiten zeigen kann, ungeschönt und nicht, um um Verständnis zu werben.
Inwieweit haben Sie sich mit Cybergrooming auseinandergesetzt und wie könnten Ihrer Meinung nach Heranwachsende geschützt werden?
Das volle Ausmaß (und wahrscheinlich noch nicht einmal das) wurde mir tatsächlich erst bewusst, als ich während der Dreharbeiten merkte, wie leicht man seine reale Person über diesen Weg verändern, Reaktionen verschleiern und das Gegenüber manipulieren kann. In spielerischer Art und Weise. Erschreckend. Der Wolf und die sieben Geißlein.
Prävention, Kommunikation in der Familie, der kleinsten Zelle, über alles, was einen bewegt. Abbau von Ängsten vor Problemen und moralischen Zuordnungen. Offenes Aufeinanderzugehen und kein Misstrauen – das wäre das Ziel. Dann gäbe es weniger Nischen, die eine Parallelwelt ermöglichen auf dem Weg zur Sinnfindung gerade im thematisierten Alter. Offenheit in der Schule, kein Mobbing und Ego shooten, sondern gemeinsam laut denken und reflektieren unter Anleitung der Verantwortlichen. Das muss das Ziel sein.
Sie hatten viele Szenen mit der 15-jährigen Lena Urzendowsky. Wie haben Sie die Zusammenarbeit empfunden?
Das Zusammenspiel mit Lena hat hervorragend funktioniert. Ich habe immer gehofft, dass sie es schafft, den nötigen Abstand zwischen sich und der Rolle zu bewahren, um den Abgründen um sich herum standzuhalten und unbeschadet aus der Arbeit hervorzugehen. Und das ist ihr meiner Meinung nach gelungen. Zur Schauspielerei gehört eben auch sehr viel Mut und Durchhaltewillen, um der Rolle die nötige Tiefe zu geben. Ich wünsche mir, mit ihr mal eine komplizierte Vater-Tochter-Geschichte zu spielen. Da würden wir´s krachen lassen!
Als der Polizist Simon Keller entlarvt, hofft man als Zuschauer, endlich aufatmen zu können. Diese Hoffnung währt allerdings nicht lange. Wie gefällt Ihnen der Schluss?
Den Schluss finde ich ganz fantastisch in seiner Unmöglichkeit der "Lösung", der "Er-lösung" im Sinne einer Festnahme, eines Showdowns mit den vielbemühten Streifenwagen und Blaulicht. Dieser Schluss ist viel konsequenter: Der Mann bleibt allein. Der Anwalt des Publikums, der Polizist, wird, kurz bevor er tatsächlich aktiv werden kann, einfach ausgeknipst, und der Mann bleibt allein. Gefangen in seiner schlimmen Liebe, in seinem Falschsein, in seiner Zerrissenheit. Schlimmer als Handschellen und Gefängnis. Und für den Zuschauer bleibt die Spannung über den Film hinaus bestehen und regt an und auf.