Drehbuchautor Thomas Kirchner zu seinem Film
Die Kommissare setzen in Ihrem „Tatort“ zweimal mit den Ermittlungen an, wobei Sie den ersten Ansatz in der Rückschau aufrollen. Was verändert sich für die Zuschauerwahrnehmung, wenn wir den ersten Anlauf quasi als Erzählung der beiden Kommissare erleben? Worin besteht für Sie der Reiz einer solchen Konstellation?
Ich mag Filme, die mit Zeitebenen und Rückblenden spielen. Unser Leben verläuft in unserer Wahrnehmung zwar linear, wir sind aber auch immer die Summe unseres Erlebens, Erinnerns, unserer Überzeugungen. Unser Handeln im Heute besteht immer aus den Überzeugungen des Vergangenen.
Deswegen beginnt der Film mit einem sonst üblichen Tatortende – der Verhaftung des Täters. Und die Kommissare müssen sich fragen, haben wir den Richtigen? Haben wir etwas übersehen? Diese Rückschau erlaubt eine Schlaglicht-Dramaturgie, die in linearer Erzählung nicht zu bewältigen wäre. Die Szenen sind Essenzen, gewonnene Überzeugungen – sie dienen der Verteidigung.
Man muss sich da durchkämpfen, um neue Ansätze zu finden. - Habe ich nur gesehen, was ich sehen wollte, worauf ich konditioniert war oder was ich mir wünschte?
„Habe ich mich geirrt?“ - Diese Frage hat immer ihren erzählerischen Reiz.
Und nicht nur für die Kommissare.
Die Inszenierung von Tim Trageser nimmt diesen Gedanken wunderbar auf. Er zeigt alle Charaktere in ihren eindringlichen Momenten der Sehnsucht und der Enttäuschung, des Erkennens, des Verrats. Dazu eine vertrauensvolle Redaktion und engagierte Produzenten. Ich hoffe, der Zuschauer hat Vergnügen an dem Film und seiner ungewöhnlichen Erzählweise.
Charlotte Mühlen, die sich zu ihrer eigenen Überraschung glücklich in den wesentlich jüngeren Hannes Petzold verliebt hat, steht mit wunderbarer Selbstverständlichkeit für diese Liebe ein. Ellen Berlinger dagegen fällt es schwer, die Beziehung nicht unter dem Ausbeutungsaspekt zu sehen. Steuert hier das tiefe Misstrauen gegen den früheren Betrüger ihre Einschätzung oder steckt noch mehr dahinter? Wie sehen Sie die Figur Ellen Berlinger? Und ihren Kollegen Martin Rascher?
Die Figur Berlinger ist in ihrer Charakterentwicklung noch jung – erst vier Filme, und doch hat sie schon schwerwiegende Entscheidungen getroffen. Vor allem in Bezug auf ihre Kinder. Ihre Entscheidungen fällte sie nach rationalen Gesichtspunkten. Hat sie das hart gemacht? Ist ihr die Möglichkeit der Romantik, der Liebe abhandengekommen? Können wir anderen zugestehen, woran wir selbst gescheitert sind? Und natürlich ist sie Kriminalistin und kennt die Rückfallzahlen.
Bei Rascher ist das für mich Interessante, dass er, was Familie und Freunde anbetrifft, noch ein ziemlich unbeschriebenes Blatt ist. Er hat Geheimnisse, was er uns anvertraut (hat), ist vielleicht nicht immer die Wahrheit. Das ist die interessante Konstellation dieses Teams. Die eine offen und fast nackt, der andere klar in seinem Tun, aber geheimnisvoll in seinem Wesen. Dazu zwei großartige Schauspieler.
Es gibt zwei Dreieckskonstellationen in Ihrem Film, einmal die Frauenfreundschaft Charlotte – Bibiana, zu der als destabilisierendes Element der junge Liebhaber kommt, Martin Rascher wiederum gerät in die Rolle des Deeskalierenden zwischen Ellen Berlinger und der Staatsanwältin. Was war Ihre Intention bei diesen Konstellationen?
Für mich geht es in diesem Tatort vor allem um Vertrauen. Wir entscheiden uns in wenigen Augenblicken – wem trauen wir, wem nicht.
Kann Rascher Berlingers Intuition trauen, sie ihm in den Momenten ihrer Offenbarungen?
Kann Charlotte Hannes vertrauen, sein Sohn dem Vater? Und immer wird dieses Vertrauen von anderen in Frage gestellt. Der Staatsanwältin, der Freundin. Nach meiner Überzeugung ist der schwerste Verlust, den man im Umgang mit dem anderen erleiden kann, der Verlust des Vertrauens. Denn er ist auch immer ein Verlust der eigenen Überzeugung.
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