Regisseur Axel Ranisch im Gespräch
Keine Laien und kein Dialekt diesmal in Ihrem Tatort, dafür ein ziemlich morbides Haus als Hauptmotiv, bevölkert von Figuren mit Geheimnissen. Warum haben Sie sich als zweiten Tatort für eine Mischung aus Krimi und Grusel entschieden?
Axel Ranisch: Zum Ende der Dreharbeiten unseres ersten Tatorts hat mir meine Redakteurin Katharina Dufner Bilder von einem dämonisch-leerstehenden Schwarzwaldhof in Freudenstadt gezeigt, dem Schlosshotel Waldlust. Ein märchenhaft-düsterer Ort, an dem die Zeit stehen geblieben ist. Anfang des vergangenen Jahrhunderts als Grand Hotel für die High Society eröffnet, erlebte es in den 30er Jahren seine Blütezeit. Mit dem gewaltsamen Tod der Besitzerin ging auch das Hotel zugrunde. Seit den 60ern mehrten sich die Gerüchte, dass es in den Räumen spukt. Anfang des neuen Jahrtausends wurde es geschlossen und komplett eingerichtet zurückgelassen, wie als Kulisse für einen Horrorfilm. Kein Wunder, dass unsere Fantasie augenblicklich zu sprudeln begann. Die Handlung lag angesichts der Vorlage direkt vor unserer Nase. Also nahmen wir den Weggang von Mario Kopper zum Anlass, um Lena Odenthal und ihre Kollegen zu einer Teambildungsmaßnahme auf eine schaurige Reise in die Vergangenheit zu schicken. Tatsächlich gibt es im Schwarzwald unzählige verlassene Gasthöfe dieser Art. Nachdem klar wurde, dass wir aufgrund fehlender Stromanschlüsse im Januar bei Temperaturen unter Null nicht im originalen Waldlust-Hotel drehen konnten, machten wir uns auf eine morbide Motivtour durch über dreißig leerstehende Hotels in der Region. Schließlich fanden wir unseren perfekten Drehort in Loßburg. Auch der ehemalige Besitzer dieses Gasthofs hatte vor Jahren den Schlüssel seiner Gastwirtschaft abgezogen und das Hotel hinterlassen wie am letzten Tag seiner Öffnung. Kerzen, Salz- und Pfefferstreuer standen auf den Tischdecken, Bier- und Weingläser warteten in der Küche auf ihren Abwasch. Spinnweben überzogen das Interieur, das den liebevollen Charme der 70er atmete. Eine Zeitreise, die nicht nur mein Herz, das unseres Drehbuchautors Sönke Andresen und unseres Kameramanns Stefan Sommer höher schlagen ließ, sondern vor allem das Herz unserer Bühnenbildnerin Lena Moritzen, die beglückt von Staubschichten, tausenden toten Fliegen und klammer, original-patinierter Bettwäsche durch die Räume hüpfte und strahlte.
Ging es Ihnen auch um den Kontrast zwischen Lena Odenthal und dem Unheimlichen? Lena ist ja eine eher moderne, geerdete Figur, die dann auch erstmal vermutet, dass alles, was ihr in dem Haus begegnet, Inszenierung ist.
Aber ja. Der Kontrast zwischen Lenas Welt und der des Lorenzhofs, wie wir unser Hotel im Film genannt haben, könnte kaum größer sein. In unserem Schwarzwaldhof leben etwas merkwürdige, von Verlust und Einsamkeit gezeichnete Menschen an einem nicht weniger extravaganten Ort. Diese Welt aus Lenas Perspektive zu entdecken, hat uns ungeheure Freude bereitet. Mit ihrem rationalen Blick auf Ort und Personal nimmt sie auch gleichzeitig mich als Zuschauer an die Hand und rutscht gemeinsam mit mir und ihren Kollegen immer tiefer in eine Welt, von der sie sich als moderne und geerdete Kommissarin am Anfang noch distanzieren will.
Haben Sie und das Teams sich bei der filmischen Umsetzung ein paar Anleihen bei den Edgar Wallace-Filmen geleistet?
Ich liebe die analogen Klassiker, in denen ein Blick mehr verrät als ein DNA-Test. Natürlich sind moderne Ermittlungsverfahren und forensische Kriminaltechniken faszinierend. Aber die zwischenmenschlichen Spannungen, die direkte Auseinandersetzung der Ermittler mit den Verdächtigen macht mir als Regisseur mehr Spaß als ein Insert auf den Computer. Wir haben unseren Ermittlern die technischen Hilfsmittel genommen, über die sie sonst verfügen. Sie reisen halbprivat zu einer Fortbildung in ein anderes Bundesland, verlassen also sogar ihren Zuständigkeitsbereich und müssen gleich zu Beginn die Mobiltelefone abgeben. Dann rutschen sie ungewollt in einen Kriminalfall und alles, was ihnen bleibt, sind Neugier, Intuition, Menschenkenntnis, logisches Denkvermögen und ihr Handwerkszeug im Befragen und Kombinieren. Die klaustrophobische Enge an einem aus der Zeit gefallenen Ort, eine mysteriöse Bedrohung von außen, fulminante Filmmusik und zwei Meter Schnee runden diese klassische SpielanordSpielanordnung für mich ab. Ich dachte dabei immer an meine Seherfahrungen aus der Kindheit, wenn ich zum gemütlichen Fernsehabend mit Salzstangen und Kuscheldecke auf dem Sofa meiner Großeltern sitzen und die Wiederholungen alter Kriminalfilme sehen durfte, zu einer Uhrzeit, bei der ich zuhause längst hätte im Bett liegen müssen.
Profitiert ein Tatort-Dreh ohne vorgegebene Dialoge auch davon, dass die Darsteller der Ermittler ihre Figuren gut kennen? Immerhin wissen sie ja nicht, wie die Geschichte endet, wer der/die Täter sind.
Aber ja! Nur deshalb können wir so arbeiten. Ich habe mich riesig gefreut, dass unsere Schauspieler ein weiteres Mal Lust auf diese Spielanordnung hatten. Ich habe sie im Vorfeld natürlich gefragt, ob ich ihnen den Täter verraten soll, oder ob sie selbst ermitteln wollen. Aber alle vier haben sich sofort dafür entschieden, quasi 'blind' in die Dreharbeiten zu gehen. Es verleiht dem Film nicht nur eine besondere Unmittelbarkeit, wenn die Kommissare den Mörder nicht kennen, es macht den Schauspielern auch wahnsinnig viel Spaß, dem Regisseur und dem Drehbuchautor auf die Schliche zu kommen. Produzent Nils Reinhardt hat extra dafür das Treatment von Sönke Andresen für die Schauspieler zensiert. Genauso, wie es wiederum uns eine diebische Freude bereitet, die Schauspieler auf eine falsche Fährte zu locken. Eine solche Art von Dreh setzt aber auch einige Spielregeln voraus, die nicht immer einfach umzusetzen sind. Vor allem der chronologische Dreh verlangt der Produktionsleitung organisatorische, logistische und finanzielle Wunder ab.
Martina Eisenreich komponierte die Filmmusik, eine Tatort-Symphonie, schon vor Beginn der Dreharbeiten, sie hat Sie also durch den Dreh begleitet. Das war ja nicht Ihr erstes Projekt mit ihr, wie haben Sie diesmal zusammengearbeitet?
Wir wünschten uns für unseren Film eine große Musik. Früher war es gang und gäbe für einen Film eigenständige Konzertmusiken für großes Sinfonieorchester zu komponieren. Nino Rota, Miklos Rosza oder Richard Addinsel haben auf diese Weise zeitlose Klavierkonzerte geschaffen, die unabhängig vom Film die Konzertpodien erobert haben. So etwas wünschte ich mir in meinem grenzenlosen Größenwahn auch für unsere Waldlust. Also setzte ich mich mit Martina Eisenreich zusammen. Ich wollte nicht, dass die Musik auf den Film komponiert wird, sondern der Film auf die Musik. Eine Filmmusik also, die vor den Dreharbeiten existiert und den Film inhaltlich genauso beeinflusst, wie das Treatment von Sönke Andresen. Zunächst diskutierten wir die Form. Erst dachten wir an ein Violinkonzert, dann an eine Orchestersuite, schließlich hielten wir die Form einer klassischen Programmsinfonie für angemessen, etwa wie Strauss’ Alpensinfonie, Berlioz’ Symphony fantastique oder Tschaikowskis Manfred-Sinfonie. Also schrieb ich Martina ein etwa zwei Seiten langes musikalisches Programm, das sie unabhängig vom Treatment vertonen sollte. Hier ein Auszug:
1.Satz »Szenario« – Preludio: »Das Grauen der Welt erwacht, wittert, lauert, läuft, rennt und schnappt zu« (80 sek) – Panorama: »Frohe Erwartungen bei der Fahrt durch weite, schneebedeckte Waldeshöhen« (70 sek) – Ankunft im Hotel und leise Vorahnung des kommenden Grauens (50 sek) – Stillstand: zittrige Kälte beim Beziehen der Zimmer, zum Ticken der stehen gebliebenen Zeit (90 sek) etc.
Was in den folgenden Monaten aus diesen knappen Skizzen entstand, war eine gigantische, verwunschen- melancholische Tondichtung für Sinfonieorchester, singende Säge und Cembalo in vier Sätzen, mit einer Gesamtlänge von über 50 Minuten. Durch das Engagement unserer Produktionsleiterin Birgit Simon kam es schließlich zur Zusammenarbeit mit der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz aus Ludwigshafen, die das Werk unter der Leitung der Dirigenten Christian Schumann und Angel Velez, den Martina direkt aus Hollywood nach Ludwigshafen brachte, für uns einspielte.
Wir hörten die Musik zum Schreiben, wir hörten sie während der Vorproduktion, während der Proben und Dreharbeiten und schließlich schnitten wir den Film der Musik auf den Leib. Auf diese Weise gehen Musik und Handlung eine derart innige Verbindung miteinander ein wie in keinem meiner Filme jemals zuvor. Ich würde sogar soweit gehen und sagen, dass Martinas Sinfonie unser heimliches Drehbuch war. Was für ein Luxus. Was für ein unbeschreibliches Glück.
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