Gespräch mit Helga Schreitmüller
Geschäftsführerin "Kieler Netzwerk gegen Kinderarmut"
Kiel ist eine Stadt mit einer überdurchschnittlich hohen Kinderarmut. 28,7 Prozent stehen einem bundesweiten Schnitt von 15,2 Prozent gegenüber. Wie kommt das?
In allen größeren Städten in Schleswig-Holstein gibt es ein vergleichbares Bild: In Lübeck, Flensburg und Neumünster ist die Kinderarmut ähnlich hoch. Die Armutsverteilung der Haushalte mit Kindern weist ein Nord-Süd- und ein nicht so deutliches Ost-West-Gefälle auf. Auch in Berlin und Bremen liegt die Kinderarmut ähnlich hoch. Letztendlich ist Kinderarmut auch immer Familienarmut. In der EU gilt derjenige als arm, der weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat (einschließlich Kindergeld, Unterhalt und sonstiger Sozialleistungen). Eine der Hauptursachen von Kinderarmut ist Arbeitslosigkeit oder Arbeit im Niedriglohnbereich. Also auch wer Arbeit hat, verdient nicht unbedingt genug, und so ist Kinderarmut eine direkte Ursache des geringen Einkommens der Eltern.
Wie sieht das soziale Milieu in Kiel-Gaarden aus?
Es gibt viele schöne Altbauwohnungen dort, aber auch Arbeitersiedlungen für Werftarbeiter, die sich bis in die benachbarten Stadtteile rüber ziehen. Irgendwann wurde in den Wohnraum in Gaarden nicht mehr investiert, wodurch er ziemlich günstig ist, so dass er, insbesondere für Menschen, die Leistungen vom Jobcenter erhalten, interessant ist. Ebenfalls leben in diesem Stadtteil sehr viele Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund; viele von ihnen auch ohne Arbeit. In Gaarden leben 58,4 Prozent der Kinder unter 15 Jahren in einkommensarmen Familien. In Gaarden gibt es die höchste Anzahl sozialer Projekte in Kiel. Und die Stadt versucht, die Eigentümer dazu zu bewegen, die Wohnungen zu sanieren. Das soll die soziale Mischung verändern.
Hat Kinderarmut letztendlich mit dem Verschwinden von klassischen, industriellen Arbeitsplätzen zu tun?
Ein großer Faktor ist der Wegfall von Arbeitsplätzen bei den großen Arbeitgebern an der Ostsee wie Werften und der Fischerei. Hinzu kommt, dass die Firmen bemüht sind, ihre Kosten bei den bestehenden Arbeitsplätzen zu reduzieren, indem sie zu geringeren Löhnen oder über Zeitarbeitsfirmen einstellen. Ich hatte gerade erst mit einem Mann zu tun, der eine qualifizierte Ausbildung hat und nach einer gescheiterten Selbstständigkeit zurück zu seinem alten Arbeitgeber wollte, der ThyssenKrupp Marine Systems. Dort hätte er nur einen Job über eine Zeitarbeitsfirma bekommen – mit der Hälfte seines alten Lohns. Die Realität für viele Menschen mit neuen Verträgen sieht so aus, dass sie sich mit weniger zufrieden geben müssen. Auch hat sich der Arbeitsmarkt in den letzten 30 Jahren sehr verändert, das heißt, wir erleben eine Auflösung von traditionellen Arbeitsverhältnissen hin zu Teilzeitarbeit, Zeitarbeit, befristeten Verträge und Arbeitsverhältnissen im Niedriglohnbereich.
Mal ganz banal gefragt: Was kann man dagegen tun? Die Antwort "Jobs schaffen"‚ liegt auf der Hand, aber das allein ist es ja nicht?
Wir als Kieler Netzwerk gegen Kinderarmut konzentrieren uns auf die lokale Arbeit vor Ort. Wir schauen, wie wir die Benachteiligungen, denen die Kinder hier ausgesetzt sind, ausgleichen können. Wie können wir die Strukturen, die hier in Kiel herrschen, ändern und stärken, damit die Kinder weniger benachteiligt sind? So ist nachweislich bekannt, dass die Bildungs- und Teilhabechancen bei diesen Kindern viel geringer sind als bei nicht armen Kindern.
Was können Sie vor Ort in Kiel tun und erreichen?
Wir machen kontinuierlich Öffentlichkeitsarbeit, um für das Thema zu sensibilisieren, insbesondere vor dem Hintergrund, dass wir in Deutschland von relativer Armut betroffen sind. Diese ist nicht so leicht nachvollziehbar wie die existentielle Armut in den Ländern der so genannten Dritten Welt. Hinzu kommt, dass einige Menschen meinen, dass die Betroffenen an ihrer Situation selbst schuld seien. Es ist uns ein Anliegen, deutlich zu machen, dass Kinderarmut auch strukturelle Ursachen hat. Neben den Eltern trägt auch die Gesellschaft Verantwortung, etwa in Form der Ausgestaltung des Sozialstaates. Die Kinder trifft keine Schuld an ihrer Situation und hier setzen wir als Netzwerk an. Denn sie brauchen unsere Unterstützung, Hilfe und Aufmerksamkeit. Und Kinder brauchen ihre Familien – so lautet unsere Frage dann auch: Was können wir für die Familien tun, damit die Kinder nicht benachteiligt sind/werden?
Laut Zahlen der Armutsberichte des Paritätischen Gesamtverbands von 2007 bis 2013 sinkt die Zahl der Kinderarmut in Kiel. 2007 waren es noch 32,7 Prozent, jetzt 28,7. Wie interpretieren Sie diese Entwicklung?
Generell gibt es einen wesentlichen Faktor, der einen großen Einfluss auf die Zahlen hat: die Geburtenrate. Werden weniger Kinder geboren, sinkt die Zahl, da gleichzeitig alle Kinder ab 16 aus der Statistik rauswachsen.
Mehr Informationen unter www.kieler-gegen-kinderarmut.de
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