So., 06.10.24 | 18:30 Uhr
Das Erste
Israel: Als Geisel im Gazastreifen
Danielle Aloni war eine der Geiseln, die am 7. Oktober 2023 entführt wurden. Im November kam sie im Geiselabkommen frei. Ein Jahr nach dem traumatischen Ereignis des Terrorangriffs blickt sie mit uns zurück: auf die Entführung mit ihrer fünfjährigen Tochter, auf die Geiselhaft in den Tunneln der Hamas und den Schmerz, der nicht vergehen kann, solange die über 100 verbliebenen Geiseln nicht zurückkehren können.
"Nur eine Tür trennt uns von den Terroristen"
"Wir wussten, dass das das Ende ist", erzählt Danielle Aloni. "Und ich erinnere mich, dass ich mich von meiner Tochter verabschieden musste und sie sehr, sehr fest umarmte. Und ich hab' zu ihr gesagt, es tut mir leid meine Liebe, aber wir werden jetzt sterben. Aber was weiß eine Fünfjährige über das Sterben, über den Tod. Und dann bin ohnmächtig geworden. … Das ist Israel. Es ist 2023. Wir haben die mächtigste Armee im Nahen Osten. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen als Geiseln genommen werden?" 07. Oktober, 6 Uhr 30. Heftiger Raketenbeschuss. Hamas Kämpfer stürmen die Kibbuzim an der Grenze zum Gazastreifen. Danielle Aloni, ihre fünfjährige Tochter, ihre Schwester, deren Mann und ihre dreijährige Zwillingsmädchen suchen Schutz im hauseigenen Bunker in Nir Oz. "Nur eine Tür trennt uns von den Terroristen."
Terroristen brechen in die Häuser ein. Danielles Schwager David hält die Tür zu, die ist von innen nicht verschließbar. "Also stand er etwa vier Stunden lang in derselben Position da und hat die Tür nicht einmal losgelassen." Auch dann nicht, als die Terroristen versuchen die Türe aufzureißen. Als sie schreien, dass die Familie rauskommen soll. Auch dann nicht, als sie ablassen und das Haus anzünden und der Rauch durch die Tür kommt. "Ich erinnere mich, dass ich sehr viel Angst hatte. Ich fing an zittern. Ich hielt meine Tochter eng an mich gedrückt." Wir fingen an, den Rauch einzuatmen." Danielle fällt irgendwann in Ohnmacht. "Sie rief Mama, bitte stirb nicht. Bitte stirb nicht. Und irgendwie habe ich es geschafft, mich selbst aufzuwecken."
Panikattacke im Hamas-Tunnel
Sie wollen raus, auch wenn sie glauben, draußen erschossen zu werden. Danielle und ihre Schwester ziehen sich über den Boden zum Fenster. Öffnen es. Hamas Kämpfer ziehen sie raus, packen sie auf Jeeps und fahren los. "Ich hab' mich über sie gebeugt und sie umarmt. Und dann wurde mir klar: ich und die kleinen Mädchen werden nach Gaza entführt." Sie werden in einen Tunnel gebracht. Müssen stundenlang laufen. Bis sie in eine Höhle kommen, mit vielen anderen Menschen. "Und das war das erste Mal, dass ich andere Geiseln gesehen habe. Dass ich verstand, dass wir nicht die einzigen Geiseln sind." 37 Tage war Danielle mit ihrer Tochter in den Tunneln, den Rest der Zeit in einer Wohnung. "Wir konnten dort nicht sprechen. Nur flüstern. Wir hatten zu wenig zu Essen, zu wenig Luft. Wir haben vielleicht einmal geduscht. Ich habe Matratzen vom Boden genommen, und damit Verstecken gespielt. Wir hatten kein Spielzeug, also mussten wir sehr kreativ sein."
Danielle versucht alles, um stark für ihre Tochter zu sein. Gibt ihr Essen, auch wenn sie dann keines bekommt. Sagt ihr, die Hamaskämpfer seien nette Menschen, damit sie keine Angst vor ihnen hat. Aber dann kommt dieser eine Tag, nach circa zwei Wochen. "Mir ging es nicht besonders gut. Ich hatte großen Hunger. Ich fing an zu schreien und zu weinen. Ich konnte nicht atmen." Danielle hat eine Panikattacke. "Meine Tochter hat das mitbekommen und andere Geiseln mussten sie wegbringen. Weg von mir. Aber das war auch der Tag, an dem ich beschlossen habe, dass meine Tochter mich nie wieder so sehen wird. Ab jetzt, wenn ich das Gefühl habe durchzudrehen, dann nur nachts. Wenn sie schläft."
Der Schwager ist bis heute in Gefangenschaft
Im November wird ein Hamas Propaganda-Video veröffentlicht. Darin auch Danielle. Der Hamas-Kommandeur gab Anweisungen, habe sie aber nicht gezwungen, es aufzunehmen sagt sie. Sie wollte ihrer Familie zeigen, dass sie noch lebt. "Er nannte mir ein paar Highlights und bat mich, darüber zu sprechen, aber niemand sagte mir, ich solle schreien. Man kann in diesem kurzen Video gut meinen mentalen Zustand sehen. Das war ein sehr authentischer Ausdruck davon, wie meine Situation damals war. Ich habe geschrien, ich habe unseren Premierminister angeschrien, er soll uns hier rausholen. Das tue ich immer noch. Es ist sehr schwer, sich das vorzustellen. 101 Geiseln sind nach einem Jahr immer noch dort. Wir sagen die ganze Zeit, dass sie keine Zeit mehr haben."
In einem Deal im November werden 105 Geiseln entlassen. Danielle, ihre Tochter, hier im Auto und ihre Schwester mit den Zwillingen. Ihr Schwager muss zurückbleiben und ist bis heute in Gefangenschaft. Jetzt, nach Monaten an Verhandlungen, ist ein möglicher neuer Geisel-Deal in so weiter Ferne wie nie. "Ich weiß, dass es ein paar sehr große Chancen gab, einen Deal abzuschließen, und das ist nicht passiert. Und ich fürchte, an jedem Tag, der vergeht, dass eine weitere Geisel stirbt. Und ich bin sicher, das ist nicht das Ende. Wir wissen, dass jetzt schon nur noch die Hälfte der 101 Geiseln am Leben ist. Wie viele werden noch sterben?"
Autorin: Hanna Resch, ARD-Studio Tel Aviv
Der Weltspiegel Podcast beschäftigt sich mit dem Thema "Eskalation in Nahost – ein Jahr nach dem Überfall der Hamas auf Israel" Moderation: Philipp Abresch, Redaktion: Steffi Fetz.
Stand: 06.10.2024 23:34 Uhr
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