Sa., 12.02.22 | 16:00 Uhr
Das Erste
Propriozeption: Zu solchen Höchstleistungen befähigt uns der sechste Sinn
Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken: Das sind die Sinne, die wir kennen. Doch es gibt einen weiteren Sinn, der sich nur schwer in wenige Worte fassen lässt – und der noch relativ unerforscht ist. Er begleitet uns von Geburt an und beeinflusst all unsere Bewegungen: die Propriozeption, umgangssprachlich: unser 6. Sinn.
Der Sinn für uns selbst im Raum
Doch was verbirgt sich hinter diesem sperrigen Begriff? Vereinfacht gesagt ist die Propriozeption der Sinn für uns selbst im Raum. "Propriozeption ist die Wahrnehmung meiner eigenen Haltung", erklärt der Bewegungswissenschaftler Heiko Wagner. An der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster erforscht er den 6. Sinn. Dieser Sinn zeigt uns: Wo ist oben, wo unten? Stehe ich, sitze ich, oder liege ich? Sind meine Arme und Beine gestreckt oder angewinkelt? In welche Richtung und wie schnell bewege ich mich?
"Dabei feuern Zigtausende von Körpersensoren gleichzeitig. Doch diese Sensoren sind relativ ungenau. Ein Ingenieur wäre mit dieser Ungenauigkeit sehr unzufrieden. Aber es scheint eine sehr gute Lösung für biologische Systeme, also für Menschen und Tiere, zu sein", sagt Heiko Wagner. Diese Fähigkeit, den eigenen Körper in seiner Umgebung wahrzunehmen, ermöglicht es uns zum Beispiel auch, mit geschlossenen Augen den Finger zur Nase zu führen – oder Treppen zu steigen, ohne jeden Schritt bewusst zu steuern.
Zigtausende Körpersensoren arbeiten von uns unbemerkt
Im Körper übermitteln dazu zahlreiche Rezeptoren dem Gehirn permanent Informationen über die aktuelle Lage im Raum. Detektiert werden Muskelspannung und -länge, Gelenkstellung und Bewegungsrichtung, also die wichtigen Informationen zu Haltung, Bewegung und Lage des eigenen Körpers.
Die entsprechenden Körpersensoren, die sogenannten Propriozeptoren, sitzen in den Muskeln, Sehnen, Bändern und Gelenken und reagieren in unterschiedlicher Weise auf Druck oder Verformung. Aus den Signalen, die sie an das Gehirn senden, leitet dieses seine Entscheidungen über mögliche oder auch notwendige Positionsveränderungen des Körpers ab und sendet entsprechende Befehle an die Muskeln zurück.
Es ist eine klassische Rückkopplungsschleife: Die Sensoren senden an das Gehirn, das Gehirn entscheidet und sendet zurück. Die Muskelspindeln erfassen zum Beispiel die Dehnung der Muskeln, die Golgi-Sehnenorgane deren Spannung. Über das Rückenmark gelangen diese Signale ins Gehirn. Plötzliche Impulse, die beispielsweise einen drohenden Sturz anzeigen, werden sogar direkt durch eine Reaktion aus dem Rückenmark beantwortet – um keine wertvolle Reaktionszeit zu verlieren.
Propriozeption: Übung macht den Meister
Besonders spannend: Die propriozeptiven Fähigkeiten werden bei Wiederholung besser. Komplexe und neue Bewegungsmuster müssen zunächst im sensomotorischen Cortex des Großhirns verarbeitet werden. Das dauert vergleichsweise lange. Bei mehr Routine, wenn die Rezeptoren beispielsweise einen bekannten Bewegungsablauf signalisieren, wird die Verarbeitung jedoch an das Kleinhirn "delegiert". Die Informationsverarbeitung erfolgt dann automatisch schneller.
Vielleicht ist die Propriozeption gerade deshalb einer der wichtigsten Sinne für athletische Spitzenleistungen. Eine chinesisch-australische Studie legt nahe, dass Spitzenleistungen unterschiedlicher Sportarten signifikant mit besseren Fähigkeiten der Propriozeption zusammenhängen. Viele dieser besseren Fähigkeiten seien möglicherweise sogar angeboren und könnten daher, wenn man sie messbar macht, als Talentkriterium herangezogen werden. Doch die Studie wurde mit vergleichsweise wenigen Probanden durchgeführt. Weitere Studien müssen diese Erkenntnisse erst noch bestätigen.
Propriozeption passiert unbewusst
Sicher ist: Sowohl die Verarbeitung der propriozeptiven Signale, als auch die daraus abgeleiteten Befehle an die Muskeln laufen größtenteils unbewusst ab. Wir korrigieren tagtäglich tausende Male unsere Kopfposition, verändern die Anspannung der Rückenmuskeln, belasten ein Bein kurzzeitig intensiver als das andere – und bekommen davon nichts mit. Das ist auch gut so. Müssten wir diese unzähligen winzigen Positionsänderungen bewusst erleben, kämen wir vermutlich kaum dazu, an etwas anderes zu denken. Die Flut der propriozeptiven Informationen wäre dann schlicht zu gewaltig. Was im Umkehrschluss aber nicht heißt, dass die Propriozeption nur von geringer Bedeutung ist. Im Gegenteil: Ohne sie fehlt uns jegliche Empfindung für Lage und Haltung des eigenen Körpers – und damit auch die Fähigkeit uns im Raum zu bewegen.
Die Folge können wir in einem einfachen Alltagsexperiment erfahren: Wer einmal etwas zu viel getrunken hat, weiß, dass unter Alkoholeinfluss bisweilen selbst eigentlich simple motorische Aufgaben wie etwa das Gehen auf einer Linie äußerst schwierig werden. Denn Alkohol- und Drogenkonsum stören die reibungslose Verarbeitung propriozeptiver Informationen. Die Konsequenz: Wir torkeln beim Gehen, geraten schon im Stehen aus dem Gleichgewicht oder nehmen den Abstand zwischen Füßen und Boden falsch wahr.
Autor: Fabian Wolf (WDR)
Stand: 02.02.2022 14:59 Uhr