SENDETERMIN Di., 14.02.23 | 21:50 Uhr

Gefahr für die Bevölkerung: Deutschlands Versagen bei Geldautomaten-Sprengern

Die Zahl der Geldautomatensprengungen in Deutschland steigt auch nach einem vom Bundesinnenministerium organisierten Runden Tisch im November rasant weiter an. Meist verwenden die Täter Sprengstoff. Die Folge: Massive Zerstörung und Gefahr für Leib und Leben der Anwohner, beklagt ein leitender Oberstaatsanwalt aus Niedersachsen. Doch Politik und Bankenverbände setzen weiter auf freiwillige Präventionsmaßnahmen.

Explosion in den Morgenstunden.

Anwohner:
"
Ach du scheiße."

Ein Nachbar alarmiert die Polizei.

Anwohner:
"
Die sind noch da."

Fast täglich sprengen Täter aus den Niederlanden Geldautomaten in Deutschland.

Holger Zwafing, Ladeninhaber:
"
Beim ersten Mal hat es nicht funktioniert und beim zweiten Mal war es dann so heftig, ja, das werden wir unser Leben lang nicht vergessen."

Bernhard Südbeck, Leitender Oberstaatsanwalt Osnabrück:
"
Wir gefährden hier Menschenleben - und das eigentlich sehenden Auges."

Beitrag

Schüttorf in der Grafschaft Bentheim in Niedersachsen. Heile Welt - auf den ersten Blick. Denn wo heute nur noch ein Sportgeschäft ist, war früher auch eine Bank, erzählt Ladeninhaber, Hausbesitzer und Bewohner Holger Zwafing.

Holger Zwafing
Holger Zwafing | Bild: SWR

Holger Zwafing, Ladeninhaber:
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Wir gehen jetzt mal in Richtung des Tresorraums, wo der Automat sich befand. Das war hier vorne. Da ist die Sprengung losgegangen. Und da hat es dann intensiv über drei Stunden gebrannt. Und die Feuerwehr hat im oberen Stockwerk das Ehepaar mit dem Jungen mit der Feuerwehrleiter aus dem Haus geholt. Also die Sprengung hat stattgefunden, obwohl in beiden oberen Stockwerken Licht war. Alle fünf Personen hätten dabei umkommen können."

Zwei Jahre ist das nun her.

Holger Zwafing, Ladeninhaber:
"
Das nimmt einen einfach nach wie vor total mit. Jedes Mal liest man wieder: nächste Sprengung, nächste Sprengung."

Niederländer haben eine Lösung gefunden

Nie wurden in Deutschland mehr Geldautomaten gesprengt als im vergangenen Jahr. Die Landeskriminalämter berichten von bundesweit fast 500 versuchten oder durchgeführten Sprengungen. Im Vergleich: 2015 waren es noch 150. Besonders betroffen: der Westen Deutschlands. Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, vor allem aber Nordrhein-Westfalen.

Dort stand etwa die Hälfte aller gesprengten Automaten in oder direkt neben Wohngebäuden. Die Täter kommen vor allem aus den Niederlanden, sagt Oberstaatsanwalt Bernhard Südbeck, der für Niedersachen alle Ermittlungen zu Geldautomatensprengern leitet:

Bernhard Südbeck
Bernhard Südbeck | Bild: SWR

Bernhard Südbeck, Leitender Oberstaatsanwalt Osnabrück:
"
Sie können es vergleichen mit italienischer Mafia. Wir haben es hier eindeutig mit organisierter Kriminalität zu tun. Die Zahl der Tätergruppierungen hat stark zugenommen. Sind wir ursprünglich noch von vielleicht 500, 600 Tätern ausgegangen, sind es mittlerweile deutlich über 1000 Täter:innen, die aus den Niederlanden stammen."

Eine Staatsanwältin, die gegen diese Täter ermittelt, erzählt mehr. Sie möchte jedoch nicht erkannt werden - aus Angst vor der organisierten Kriminalität.

Staatsanwältin, nachgesprochen:
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Die Täter, die hier nach Deutschland über die Grenze kommen, sind oft relativ jung. Wir sehen zunehmend, dass Heranwachsende hier Straftaten begehen, die 18, 19, 20 sind, dann teilweise mit 18 auch schon diese hoch motorisierten Fahrzeuge mit entsprechend hohen Geschwindigkeiten bei der Flucht fahren. (…) Aber man muss sagen, der Tatanreiz ist sehr hoch. Die jungen Täter bekommen in der Regel Beutesummen bis zu 10 Prozent. Wenn man davon ausgeht, dass jede erfolgreiche Sprengung mittlerweile eine durchschnittliche Tatbeute von etwa 100.000 € bringt, wären das dann 10.000 €."

Bis 2015 gab es auch in den Niederlanden fast täglich Geldautomatensprengungen, dann brachen die Zahlen ein. Warum?

Jos van der Stap leitet eine Sonderabteilung Automatensprengung bei der niederländischen Polizei in Den Haag.

Jos van der Stap
Jos van der Stap | Bild: SWR

Jos van der Stap, Polizei Niederlande:
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In einem Zeitraum von zehn Jahren haben wir Maßnahmen ergriffen, um eine bessere Prävention an den Geldautomaten zu erreichen. (…) Und jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir sagen, die einzige Lösung ist, das Geld zu zerstören, damit die Erfolgschance gleich null ist."

Maßgeblich für diesen Erfolg: eine eigens dafür entwickelte Technik. Deutschland prüft sie noch. Bei der Sprengung werden die Geldbündel in der Kassette verklebt - sind nicht mehr zu gebrauchen. Die Niederländer verlassen sich nicht nur darauf, denn die Täter sind findig, passen ihre Strategien neuen Sicherheitsstandards an.

Jos van der Stap, Polizei Niederlande:
"
Sie müssen wissen, dass wir alle vier Wochen ein Treffen mit unseren Banken haben und dann alle Informationen austauschen. Und dann ergreifen die Banken Maßnahmen und teilen es uns mit."

Deutschland setzt auf Freiwilligkeit

Das hilft. Deshalb kommen die Täter nach Deutschland, wo es keine flächendeckenden Präventionsmaßnahmen gibt. Dass die notwendig sind, zeigen auch Beispiele wie Frankreich oder Portugal. Dort sind alle Banken gesetzlich verpflichtet, ihre Geldautomaten zum Beispiel mit Farbsystemen zu sichern. So weit ist man in Deutschland nicht.

Deshalb lud Bundesinnenministerin Nancy Faeser Anfang November Bankenverbände, Versicherungswirtschaft und Ermittler zu einem Runden Tisch ein. Das Ergebnis: eine Erklärung - mit vielen freiwilligen Maßnahmen, die die Banken umsetzen sollen.

Drei Monate ist das nun her. Seitdem attackierten die Täter 163 weitere Automaten. Muss das Bundesinnenministerium nicht noch aktiver werden? Das hätten wir die Ministerin gerne gefragt, doch für ein Interview hatte sie keine Zeit. Schriftlich lässt sie uns mitteilen:

Bundesinnenministerium:
"
Sollte die Umsetzung der neuen Ansätze nicht ausreichen, um die Zahl der Geldautomatensprengungen zu reduzieren, hält das BMI (Bundesministeriums des Innern und für Heimat; Anm. d. Red.) gesetzliche Verpflichtungen für erforderlich."

Man bleibt also vage. Was haben die Banken seitdem unternommen? Ihre Spitzenverbände lassen über einen gemeinsamen Sprecher mitteilen:

Deutsche Kreditwirtschaft:
"
Wir informieren unsere Mitgliedsinstitute und fordern sie auf, für jeden Standort - soweit noch nicht geschehen - eine Risikoanalyse vorzunehmen und die sich daraus ableitenden Maßnahmen umzusetzen."

Was die Banken bislang schon umgesetzt haben, wisse man nicht. Bei den Volks- und Raiffeisenbanken sei zum Beispiel eine erste Bestandsaufnahme im Sommer geplant. Zeit, die die Täter nutzen.

Forderung: Banken gesetzlich verpflichten

Zum Beispiel vor einem Monat im rheinland-pfälzischen Neustadt (Wied).

Anwohner:
"
Ach du scheiße."

Anwohner filmen kurz nach der Explosion die Täter.

Anwohner:
"
Ey, ey, du Pisser."

Dabei dachten die Vorstände der Bank in Neustadt (Wied), sie wären gut gewappnet.

Martin Leis
Martin Leis | Bild: SWR

Martin Leis, Bankvorstand Neustadt (Wied):
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Wir hatten eine sogenannte Anti-Gas-Lösung, um eine Sprengung mit einem Gegen-Gas zu neutralisieren. Wir hatten auf jeden Fall die entsprechende Einbruchmeldeanlage, die gewährleistet hat, dass der Alarm ausgelöst wird. Und zusätzlich hatten wir ein Nebelsystem hier im Einsatz. Gebraucht hätten wir eine Einfärbe-, Einklebetechnik."

Gegen einen Angriff mit Gas wären die beiden Bankvorstände gewappnet gewesen: lange Zeit das gängige Vorgehen der Täter aus den Niederlanden. Seit einiger Zeit sprengen die Kriminellen nun mit selbstgebasteltem Sprengstoff und bringen Anwohner damit in Lebensgefahr.

Konrad Breul, Bankvorstand Neustadt (Wied):
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Alles, was wir an Maßnahmen ergreifen, haben die Täter Antworten drauf."

Seit 2015 steigt die Zahl der Automatensprengungen in Deutschland kontinuierlich an. Die Schäden zahlen die Versicherungen. Gibt es für die Banken irgendwelche Vorgaben?

Konrad Breul
Konrad Breul | Bild: SWR

Konrad Breul, Bankvorstand Neustadt (Wied):
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Auf die Frage kann ich ehrlich gesagt gar keine Antwort geben. Mir ist so jetzt keine direkte Vorgabe bekannt. Natürlich haben wir die Vorschriften der Unfallverhütungsvorschriften zu beachten. Wir sind von unserem Versicherer gefordert, entsprechende Alarmtechnik vorzuhalten. Das ist selbstverständlich, aber, wie wir gesehen haben, in keinster Weise ausreichend."

Martin Leis, Bankvorstand Neustadt (Wied):
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Ich fordere eine klare Gesetzeslage, weil ich glaube, an der Stelle würde sie helfen. Und ich fordere ein enges Zusammenrücken aller Beteiligten."

Genau das will die niedersächsische Justizministerin jetzt angehen. Bis vor kurzem hat sie selbst noch Geldautomatensprenger als Richterin verurteilt.

Kathrin Wahlmann
Kathrin Wahlmann | Bild: SWR

Kathrin Wahlmann, SPD, Justizministerin Niedersachsen:
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Ich finde es unglaublich, dass ein Nachbarland es schafft, das Phänomen komplett zu beenden durch relativ einfache Maßnahmen. Die niedersächsische Justiz wird sich nicht vertrösten lassen auf noch weitere Runde Tische. Wenn wir sehen, dass da nichts passiert, dann werde ich eine entsprechende Bundesratsinitiative auf den Weg bringen, um die Banken gesetzlich in die Verpflichtung zu nehmen, entsprechende Sicherungsmaßnahmen zu schaffen."

Stand: 26.07.2024 10:25 Uhr