Di., 07.03.23 | 21:45 Uhr
Drohender Versorgungsengpass: Teure Leiharbeit in der Pflege
Nach REPORT MAINZ-Recherchen lassen Pflegeeinrichtungen Betten leer stehen, obwohl eine große Nachfrage danach besteht. Hintergrund sind neben dem Fachkräftemangel auch der zunehmende Einsatz von teuren Zeitarbeitern, die personelle Lücken schließen sollen.
Eva Ohlerth ist Pflegefachkraft seit über 30 Jahren. Sie träumt von einer besseren Zukunft – als Leiharbeiterin. Was in anderen Branchen prekäre Arbeit ist, ist in der Pflege wie ein Lottogewinn.
Eva Ohlerth, Pflegerin in Leiharbeit:
„In der Leiharbeit kann ich weitaus mehr verdienen. Ich verdiene je nach dem bis zu 1.000 € mehr.“
Frage:
Netto?
Eva Ohlerth, Pflegerin in Leiharbeit:
„Netto und habe auch eventuell noch die Konditionen, einen Dienstwagen zu bekommen. Ich habe mehr Freizeit und vor allen Dingen mehr Lebensqualität. Mir ist meine Gesundheit wichtig und ich habe wieder ein Privatleben.“
Frage:
Und Dienstpläne?
Eva Ohlerth, Pflegerin in Leiharbeit:
„Auf die Dienstpläne haben wir Einfluss, indem wir sie teilweise selber schreiben.“
So wie Eva Ohlerth denken viele Pflegende. Leiharbeiter sind die Profiteure des Fachkräftemangels. Schon 2019 berichtete REPORT MAINZ, wie Leiharbeiter in der Straßenbahn ihre Arbeitsbedingungen feiern.
Lukrative Leiharbeit
Geschäftsführer Leiharbeitsfirma, 28.05.2019:
„Lasst uns ein bisschen feiern. Lasst uns was trinken."
Frage:
Sind Sie denn jetzt zufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen in der Pflege, wie es läuft?
Pflegefachkraft, 28.05.2019
„Absolut zufrieden. Gibt kein Wenn und Aber. Die Dienste sind in Ordnung, wir können Dienste nehmen, so wie wir sie brauchen, wir müssen nicht mehr einspringen, auch wenn jemand krank ist nicht."
Pflegefachkraft, 28.05.2019:
„Man kann Urlaub nehmen, wenn man will. Man hat bessere Arbeitsbedingungen.“
Paradiesische Arbeitsbedingungen für Leiharbeiter. Auch in der pro seniore Einrichtung in Cochem an der Mosel.
Darunter leidet Residenzdirektorin Margarete Vehrs, die eigentlich dringend mehr Personal braucht. Wegen des Fachkräftemangels aber kann sie kaum neue Pflegekräfte einstellen – außer den Leiharbeitern. Und die braucht sie immer wieder, um Löcher im Dienstplan zu stopfen. Krisensitzung mit festangestellten Pflegefachkräften.
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin:
„Wir brauchen noch mal Leiharbeitsfirmen. Es fehlen jetzt vier Leute. Zwei Examinierte, zwei nicht Examinierte.“
Wieder neue Leiharbeiter. Diese Nachricht kommt nicht gut an bei den festangestellten Pflegekräften. Denn sie beeinträchtigen das Betriebsklima.
Frust bei Festangestellten
Daniela Scheer, Pflegefachkraft:
Ich koche innerlich, weil wir die Dienste einfach so abdecken müssen, wie die Leiharbeiter das wollen, wie sie, wie sie das wünschen und wir letzten Endes das machen müssen, was übrigbleibt. Und wir möchten das vielleicht auch nicht alles auffangen.
Kim-Kristin Krams, Pflegefachkraft:
„Dieses große Ganze macht mich so wütend, weil im Endeffekt leiden unsere festen Mitarbeiter, wir leiden drunter, unser Team und die Bewohner und die Bewohner können wirklich nichts dafür.“
Tatsächlich beschweren sich auch Bewohner bei der Residenzdirektorin – wegen der ständig wechselnden Leiharbeiter. Die 94-jährige Elfriede Busch-Erbar fühlt sich nicht mehr richtig wohl. Zu den Leiharbeitern hätte sie wenig Bezug.
Elfriede Busch-Erbar, Heimbewohnerin:
Ich habe nicht den Erfolg, den ich mir versprochen habe und mir versprochen worden ist. Und deshalb würde ich bitten, mir doch von unseren bisherigen Pflegern, jemanden zu schicken.
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin:
Ich kenne das Problem. Du bist nicht die Einzige, die dann sagt: Naja, ich habe das Vertrauen nicht und immer jemand Neues. Aber zurzeit haben wir halt zu wenig Leute, Elfriede, und ich muss leider auf Leiharbeitsfirmen zurückgreifen.
Problematik schon lange bekannt
Auch die Politik kennt das Problem, seit vielen Jahren. Der damalige Bundesgesundheitsminister, Jens Spahn, wünscht sich deshalb 2018 im ZDF-Morgenmagazin:
Jens Spahn, CDU, ehemaliger Bundesgesundheitsminister:
„Ich hätte lieber weniger Leiharbeit in der Pflege und mehr Festangestellte“
Doch genau das Gegenteil trat ein. Laut Bundesagentur für Arbeit gibt es immer mehr Leiharbeiter in der Altenpflege. 2018 waren es rund 12.000, 2022 fast 17.000.
Schon vor vier Jahren berichtete REPORT MAINZ von einer beginnenden Goldgräberstimmung bei Leiharbeitsfirmen.
Geschäftsführer Leiharbeitsfirma, 28.05.2019:
"Die Pflege ist für die Zeitarbeit eine, ja, eine schöne Boombranche, ja."
Frage:
Und ein gutes Geschäft?
Geschäftsführer Leiharbeitsfirma, 28.05.2019:
"Und ein gutes Geschäft."
Für das die Heimträger teuer bezahlen müssen. Über 10.000 Euro überweise Margarete Vehrs für jeden ihrer derzeit vier Leiharbeiter an Zeitarbeitsfirmen, erklärt sie uns. Im Monat. Eine festangestellte Fachkraft koste dagegen nur rund 4.300 Euro. Problematisch seien Leiharbeiter für Heimträger auch deshalb, weil die Zusatzkosten, also die Differenz, nicht refinanziert werde.
Wirtschaftliche Notlage durch Leiharbeit
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin:
„Gesamtwirtschaftlich kann ein Haus dadurch zugrunde gehen. Das ist so! Ist schlimm für die alten Menschen, weil die suchen ja dringend nach Plätzen.“
Und das Problem könnte sich weiter verschärfen, sobald die Zahl der Pflegebedürftigen aus den geburtenstarken Jahrgängen anwächst.
Frage:
Also letztendlich führt die Leiharbeit so zu einer Gefahr für die Versorgung von alten und pflegebedürftigen Menschen?
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin:
„Ja.“
Und was sagt die Bundesregierung dazu? Wir wollen wissen, wie sie Leiharbeit in der Altenpflege eindämmen und die Versorgung alter- und pflegebedürftiger Menschen sicherstellen will. Gemeinsam teilen uns Gesundheitsminister Lauterbach und Arbeitsminister Heil schriftlich mit:
„Der Koalitionsvertrag“ enthalte „Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen“: Zum Beispiel die „Abschaffung geteilter Dienste“, „die Einführung trägereigener Springerpools“ und „familienfreundliche Arbeitszeiten“.
Außerdem werde „in einem ersten Schritt die Finanzierung von 13.000 zusätzlichen Fachkraft- und 20.000 zusätzlichen Hilfskraftstellen in der Langzeitpflege ermöglicht. Ab 1. Juli 2023 können weitere Fach- und Hilfskräfte zusätzlich vereinbart werden.“
Reicht das aus? Das wollen wir von Sozialwissenschaftler Stefan Sell wissen. Er hat sich intensiv mit der Problematik von Leiharbeitern in Pflegeheimen auseinandergesetzt.
Stefan Sell, Hochschule Koblenz, Sozialwissenschaftler
„Diese Zahl ist bereits 2018 in die Welt gesetzt und den Leuten versprochen worden. Viele dieser 13.000 damals versprochenen Stellen sind bis heute nicht besetzt, schlichtweg weil es keine Pflegekräfte gibt. Und die im Jahr 2023 erneut als einen Lösungspunkt vorzutragen, ist schon eine ziemliche Frechheit.“
Heimleitungen lassen Betten leer stehen
Deshalb ist Margarete Vehrs so sauer auf die Politik und zieht Konsequenzen. Obwohl in ihrer Einrichtung die Warteliste für einen Pflegheimplatz lang sei, wolle sie künftig möglichst keine Leiharbeiter mehr beschäftigen. Die Idee: Weniger Bewohner, die fast ausschließlich vom Stammpersonal versorgt werden. Mehr könne sie sich nicht leisten.
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin:
„Ja, hier hätten Bewohner einziehen sollen. Aber ich habe es jetzt leerstehen lassen. Hole ich mir Leiharbeiter, dann ist es deutlich teurer, als wenn ich einen Bewohner aufnehme.“
Frage:
Und wie viele Betten lassen Sie zurzeit in Ihrem Haus leer stehen in Cochem?
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin:
15.
Frage:
15 Betten von?
Margarete Vehrs, Residenzdirektorin:
70.
Stefan Sell, Hochschule Koblenz, Sozialwissenschaftler:
„Insofern ist eine Einschränkung der Versorgung hier die am Ende richtige Antwort. Das wird allerdings dazu führen, dass viele Familien in den vor uns liegenden Jahren keinen Pflegeheimplatz für ihre Angehörigen mehr bekommen werden.“
Leiharbeiter in der Altenpflege haben bessere Arbeitsbedingungen und wollen nicht mehr darauf verzichten. Für festangestellte Pflegekräfte ist es derzeit wenig attraktiv in Heimen zu arbeiten. Pflegebedürftige bekommen eine schlechtere oder keine Versorgung mehr. Der Pflegekollaps droht.
Stand: 15.10.2024 20:29 Uhr